Geschichte erinnern.
Gegenwart verändern.
Digitaler Stadtrundgang zu Rassismus und Antisemitismus in Frankfurt
Ein Projekt der Naturfreundejugend Hessen: www.nfj-hessen.de
Warum dieser Stadtrundgang
Schwarze Menschen, Rom*nja und Sinti*zze, jüdische Menschen, People of Color und migrantische Menschen machen immer wieder darauf aufmerksam, dass Rassismus und Antisemitismus zum „Normalzustand“ in Deutschland gehören. Auch Frankfurt ist als Stadt durchzogen von etlichen Orten, an denen sich Rassismus und Antisemitismus zeigen. Doch häufig sind diese Ungerechtigkeiten im öffentlichen Raum unsichtbar – oder sie werden zu schnell vergessen gemacht. Mit unserem digitalen Stadtrundgang möchten wir den Rassismus und Antisemitismus in Frankfurt sichtbar machen – auch für Menschen, die z.B. von zu Hause aus oder ohne Gruppe mehr über diese Orte der Stadt erfahren möchten – vor allem in Zeiten einer globalen Pandemie.Warum Geschichte erinnern und Gegenwart verändern?
Betroffene rassistischer und antisemitischer Gewalt und ihre Kämpfe um Gerechtigkeit lehren die weiße Mehrheitsgesellschaft, dass Erinnern wichtig für politische Veränderung ist. Erinnern stört den rassistischen und antisemitischen „Normalzustand“, der die Ungerechtigkeit unsichtbar und vergessen machen will. Denn wenn wir erinnern, den „Normalzustand“ eben nicht als „normal“ hinnehmen, können wir die Ungerechtigkeit verstehen und dagegen aktiv werden. Wir sprechen in diesem Stadtrundgang von Geschichte erinnern und Gegenwart verändern – doch Rassismus und Antisemitismus gehören keinesfalls der Vergangenheit an, denn Geschichte reicht für uns immer auch in die Gegenwart hinein, die es zu verändern gilt.Wie funktioniert der Stadtrundgang?
Auf unserer digitalen Karte findet ihr Orte eingezeichnet, an denen sich Rassismus und Antisemitismus ereignet haben oder ereignen. Ihr könnt die Karte von zu Hause aus, oder auch unterwegs mit dem Smartphone nutzen. Wenn ihr die Orte auf der Karte anklickt, könnt ihr euch weiterleiten lassen und es erscheinen verschiedene Medien, die nähere Informationen, wissenschaftliche Quellen, Bilder bereitstellen. Ihr könnt euch die Texte auch vorlesen lassen. Mit der Zeit ergänzen wir die Texte um Videos und Aufnahmen in Gebärdensprache. Die Orte, die zunächst auf der Karte eingezeichnet sind, sind nur eine Auswahl und erschöpfen nicht die Realität von Rassismus und Antisemitismus in Frankfurt – gerne könnt ihr uns Vorschläge von Orten machen, so dass wir die Karte mit der Zeit gemeinsam immer weiter ergänzen."Völkerschauen" im Zoologischen Garten
Eine besonders widerwärtige und herabwürdigende Praktik des europäischen Rassismus waren die von 1870 bis 1930 in Deutschland und anderen Ländern des Westens veranstalteten, sogenannten „Völkerschauen“. Bei diesen sogenannten „Völkerschauen“ ging es um die entmenschlichende Zurschaustellung „fremder“ Menschen. Obwohl die Praktik der Zurschaustellung des „Fremden“ in Europa bereits seit Beginn des Kolonialismus 1492 deutliche Beliebtheit genoss, werden mit dem Begriff der „Völkerschau“ die ca. ab Mitte des 19. Jahrhunderts im großen Stil organisierten „Ausstellungen“ bezeichnet. Während also die Ausstellung entführter Menschen aus den Kolonien in Europa bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht, waren diese frühen Zurschaustellungen ein Privileg der Reichen und Machthaber; erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden diese Zurschaustellungen für große Publikumsmassen organisiert und erhielten im Zuge dessen den Namen „Völkerschau“. Diese Ausstellungen fanden meistens in Zirkussen oder in Zoos statt, wobei der letztere Veranstaltungsort aufgrund seiner vermeintlich „authentischen und natürlichen Umgebung“ bei den Besucher*innen besonders beliebt war (Dreesbach). Mindestens 25 der insgesamt ca. 400 Völkerschau en, die im Zeitraum von 1870 bis 1930 in Deutschland organisiert und durchgeführt wurden, fanden zur großen Freude des damaligen Direktors, Adalbert Schweizer, im Frankfurter Zoologischen Garten statt.
Die sogenannten „Völkerschauen“ waren für die Veranstaltenden in bedeutendem Maße ein kommerzielles Projekt. Der heutzutage bekannteste und damals erfolgreichste Veranstalter, Carl Hagenbeck, organisierte seine erste Völkerschau 1874, nachdem Hagenbecks ursprünglicher Beruf, die Ausstellung von und der Handel mit Tieren, zu stagnieren begann. Auf der Suche nach einer neuen Erwerbsmöglichkeit gab Hagenbeck den Auftrag, außer der von ihm bereits bestellten Rentiere auch eine Familie samt ihres Hausrats aus Lappland nach Deutschland zu verschleppen; die Ausstellung war ein großer Erfolg, der den Beginn der Karriere Carl Hagenbecks mit der Ausstellung von Menschen begründete (Thode-Arora, 34f.).
Dass die Ausstellungen derart erfolgreich waren, dass sie Hagenbeck und viele andere zu reichen Männern machten, lässt sich einzig und allein durch den zutiefst verankerten Rassismus in den westlichen Gesellschaften erklären. Seit dem europäischen Kolonialismus und der Ausbeutung und Versklavung von Menschen außerhalb Europas, brauchten Europäer*innen eine moralische Rechtfertigung für ihr Handeln. Diese konstruierten sie sich über die Einteilung von Menschen in verschiedene Kategorien einer Hierarchie, an deren Spitze weiße Menschen stehen. Pseudowissenschaftliche, biologistische Behauptungen im 19. Jahrhundert befeuerten und zementierten diese Einteilung weiter und stellten die Grundbedingung für die Ausstellung von Menschen in Tiergehegen dar. Schwarze Menschen, indigene Menschen und People of Color (BIPoC) wurde das Mensch-Sein abgesprochen und wurden als Tiere betrachtet. Die Überhöhung der Weißen durch den Ausschluss des Nicht-Weißen vom Mensch-Sein schafft somit die juristische, theoretische und alltägliche Ebene der rassistischen Ideologie, die die Unterdrückung von BIPoC auf allen gesellschaftlichen Ebenen ermöglicht und sichert. So war es die Aufgabe der ausgestellten Menschen, ihre vermeintliche Naturnähe zu demonstrieren, indem sie mit Tieren zusammen in Gehege gesteckt wurden, um für die weißen Zuschauenden Kunststücke oder Dressuren durchzuführen. Außerdem sollten die Ausgestellten ihr vermeintliches Alltagsleben präsentieren sowie Tänze und Rituale aufführen, die allesamt meist nichts mit ihrer eigenen Kultur zu tun hatten, sondern den rassistischen und stereotypisierten Klischees des weißen Publikums entsprachen (Dreesbach).
Die Menschen, die in solchen Zurschaustellungen präsentiert wurden und zur Darstellung rassistischer und kolonialer Bilder gezwungen wurden, tragen die unterschiedlichsten Geschichten. So war beispielsweise die Art und Weise, wie sie nach Europa und Nordamerika kamen, hochgradig unterschiedlich: Während sich manche Ethnien, wie die Sioux der Pine Ridge Reservation, äußerst gut mit der Praktik der Zurschaustellung des „Fremden“ auskannten und Verträge mit den Ausstellenden erarbeiteten, wurden andere mit Scheinverträgen betrogen oder auf brutalste Weise verschleppt und entführt. Ein Beispiel für letzteres ist die gewaltvolle Entführung von neun Indigenen aus Australien durch den Menschenjäger Robert Cunningham, der sich mit dieser Verschleppung auch noch im Programmheft seiner Ausstellung brüstete. Ebenso unterschiedlich wie die sogenannte „Anwerbung“ der zur Schau gestellten Menschen, waren ihre darauf folgenden Schicksale: Während manche Menschen nach den Ausstellungen tatsächlich wieder in ihre Heimat reisen konnten, mussten andere in Europa blieben; wieder andere sind jedoch noch während der Reise nach Europa oder kurz nach ihrer Ankunft umgekommen. Obwohl es auch viele Dokumentationen von Mangelernährung und direkter Gewalt gibt, waren Krankheiten die häufigste Todesursache. So starben zum Beispiel die zuvor erwähnten Menschen aus Lappland an den schwarzen Pocken. Ihre Tode gingen oft auf Nachlässigkeit in Impfung, Unterbringung und Bekleidung von Seiten der Veranstaltenden zurück (Thode-Arora S.97f.).
Letztlich gibt es auch Dokumentationen über Widerstände gegen den kolonialen und rassistischen Blick, also gegen das Angaffen eingezäunter und exoitisierter Menschen. Als Beispiel ließe sich der Kameruner Kwelle Ndumbe, Sohn des Kameruner Königs Ndumbé Lobé Bell, aufführen. Kwelle Ndumbe, der nach Berlin verschleppt wurde, bestand darauf einen klassisch westlichen Anzug und ein Opernglas zu bekommen, um während einer Völkerschau auf die weißen Besuchenden zurückzuschauen, die ihn tagtäglich angafften. Durch diese subtile Widerstandspraktik hat Kwelle Ndumbe den Besuchenden der Völkerschauen den Mechanismus der Entmenschlichung ihrer Blicke vorgeführt und seine Widerstand dagegen verdeutlicht.
Quellen
Dreesbach, A. (2012). Kolonialausstellungen, Völkerschauen und die Zurschaustellung des „Fremden“. In: ieg-ego.eu/de/threads/hintergruende/europaeische-begegnungen/anne-dreesbach-kolonialausstellungen-voelkerschauen-und-die-zurschaustellung-des-fremden.
Thode-Arora, H. (1989). Für fünfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Völkerschauen. Frankfurt & New York: Campus Verlag.
frankfurt.postkolonial.net/stadtrundgang/
www.fnp.de/frankfurt/frankfurter-menschen-ausgestellt-wurden-10706545.html
www.deutschlandfunk.de/voelkerschau-im-zoo-wuppertal-ein-gedenkstein-fuer-sussy.1769.de.html?dram:article_id=390177
Bücherverbrennung am Römerberg
Ein Genozid (bzw. ein Völkermord), also eine Absicht, die auf die restlose Vernichtung einer Ethnie abzielt, umfasst ebenso die Vernichtung des leiblichen wie auch des geistigen Lebens und seiner materiellen Zeugnisse: Der Genozid zielt nicht nur auf die Körper, sondern auch auf ihre geistigen Errungenschaften; es ist der Versuch einer restlosen Tilgung auf allen Ebenen. Deshalb ziert seit 2001 das Zitat Heinrich Heines, „Das war ein Vorspiel, nur dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“, die in den Boden eingelassene Gedenktafel an die Bücherverbrennung 1933 auf dem Römerberg in Frankfurt.
Dieser Eigenschaft von Genoziden folgend fand auch der nationalsozialistische Genozid an der jüdischen Bevölkerung Europas auf mehreren Ebenen statt. Eine dieser Ebenen, die sich in Frankfurt besonders stark vertreten wiederfindet, war der Studierendenbund der Nazis. Der „Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund“ (NSDStB) war besonders in den frühen Jahren des NS-Regimes ein bedeutendes Propaganda- und Aktionsorgan der Nazis. So wirkten die verschiedenen Ortsgruppen des NSDStB maßgeblich an den 1933 verübten sogenannten Bücherverbrennungen mit. Doch die Frankfurter Ortsgruppe bewies bereits zuvor ihre strikt antisemitische Parteitreue und grenzenlose Verehrung Adolf Hitlers (Hammerstein 270ff.).
Am 26. März 1933 nahezu zwei Monate nach der Machtübernahme durch die Nazis ordneten Hitler und Goebbels den Boykott jüdischer Geschäfte und Personen an. Zwei Tage später am 28. März lagen den Stadtverwaltungen und Gauleitungen der ausgearbeitete 11-Punkte-Plan zum „Abwehrkampf gegen die jüdische Greuel- und Boykotthetze“ vor, der am 01. April im gesamten Reich angewandt wurde. An besagtem Tag um 10:00 Uhr begann die Aktion des NS-Regimes: Blockiert und boykottiert wurden unter anderem Geschäfte, Kinos und Restaurants jüdischer Besitzer*innen, so wie jüdische Ärzt*innen, Anwält*innen oder Personen in den Kulturbetrieben. Für die Boykott-Aktionen waren oft mindestens zwei SS- oder SA-Männer vor den Arbeitsplätzen der Betroffenen positioniert. Die Nazis waren mit Schildern wie bspw. „Kauft nicht bei Juden“ ausgestattet, notierten die sogenannten „arischen Deutschen“, die bei Juden:Jüdinnen kauften oder ihre Dienstleistungen in Anspruch nahmen, beschädigten die Arbeitsplätze der Betroffenen, denunzierten und erniedrigten sie vor versammeltem Publikum (Schmidt 1987, 177-180).
Und auch an der Goethe-Universität haben die Nazis an diesem Tag ihre Boykottaktionen ungehindert durchführen können. So wurde am 01. April 1933 vom NSDStB mit Unterstützung der SA das komplette Universitätsgelände besetzt. Bei der Besetzung hat der NSDStB die Hörsäle jüdischer Dozierender blockiert und ebenfalls die Namen sogenannter „arischer Deutscher“ aufgezeichnet, die die Vorlesungen besuchen wollten. Jüdischen Studierenden wurde der Zutritt zur Universität verweigert und die Akten der Universitätsverwaltung wurden nach Hinweisen auf jüdische und linke Studierende durchwühlt. Im Anschluss an die Durchsuchung der Verwaltungsgebäude lud der NSDStB jüdische und linke Studierende vor sogenannte „Universitätsgerichte“ und verurteilte diese entweder weil sie jüdisch waren und/oder wegen ihres „anti-völkischen Gedankenguts“. Außerdem setzte der NSDStB gegen Ende April ebenfalls das Hissen der Hakenkreuzfahne an den Universitätsgebäuden durch und erwirkte gegen Anfang Mai, dass jüdische Studierende einen rot gekennzeichneten Studierendenausweis mitführen und dass Erstsemester bei der Immatrikulation einen Nachweis über ihre „arische Abstammung“ einreichen mussten (Hammerstein, 271-274).
Am 10. Mai 1933 ereignete sich die bezüglich Propaganda effektivste Aktion des NSDStB in Frankfurt. Die maßgeblich vom NSDStB getragene sogenannte „Aktion wider den undeutschen Geist“, die in der Bücherverbrennung gipfelte, diente ausdrücklich der Vernichtung „jüdischen, marxistischen und bolschewistischen Kulturgutes“ (ebd., 275). Im Vorlauf des Geschehens verbreitete der NSDStB massiv antisemitische Hetze und forderte Frankfurter*innen auf, Bücher jüdischer Autor*innen aus ihrem Privatbesitz zu der von ihnen eingerichteten Sammelstelle in der Universität zu bringen; eine Propagandaaktion, die durchaus auf fruchtbaren Boden stieß. Die öffentlichen Bibliotheken sowie die der Universität wurden von NSDStB und SA persönlich untersucht. Die Aktion war aus den Augen der Nazis derart erfolgreich, dass der NSDStB von der „Säuberung der Frankfurter Bibliotheken“ sprach.
Am Nachmittag des 10. Mai 1933 marschierten NSDStB, Teile der Studierenden und Dozierenden sowie alle schlagenden Studentenbünde und Landsmannschaften von einer SA Kapelle angeführt vom Universitätsgelände in Bockenheim zum Römerberg. In der Mitte des Zuges befand sich ein Mistwagen, der von zwei Zugochsen gezogen wurde und auf welchem sich die gesammelten Bücher, Schriften und Werke jüdischer und linker Autor*innen befanden.
Nachdem der Zug am Römerberg ankam folgte eine durchwegs antisemitische und völkische Rede des evangelischen Hochschulpfarrers sowie einige völkische Lieder. Schließlich wurden „Anklagen“ gegen die jeweiligen Bücher als auch ihre Autor*innen verlesen und die Bücher anschließend in ein Feuer geschmissen, das in der Mitte des Römerbergs entzündet worden war. Die vernichteten Werke stammten beispielsweise von Zweig, Mann, Marx, Lenin, Trotzki, Feuchtwanger, Döblin, Remarque, Kästner, Tucholsky oder Kafka. Nach der Verbrennung wurde die Kundgebung mit dem „Horst-Wessel-Lied“ — Kampflied der SA und spätere NSDAP Parteihymne — und einem dreifachen „Sieg-Heil“ beendet. In Folge der bundesweit durchgeführten Bücherverbrennungen emigrierten ca. 2500 Schriftsteller*innen (Hammerstein 275ff.; Schmid 191f.). Zuletzt hat der Römerberg in Zusammenhang mit der Bücherverbrennung von 1933 im Jahr 2018 Schlagzeilen gemacht, als dort am 85. Jahrestag die Katholische Burschenschaft „KDStV Badenia zu Frankfurt“ ihr „Frühschoppen“ veranstalten wollte und somit die andauernde deutsche Ignoranz gegenüber Orten und Tagen der Erinnerung an den Holocaust bewies.
Quellen
Hammerstein, N. (1989). Die Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main: Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule 1914-1950. Neuwied & Frankfurt: Metzner Verlag.
Schmid, A. & R. (1987). Frankfurt in stürmischer Zeit: 1930-1933. Stuttgart: Thesiss Verlag.
Christy Schwundeck - getötet durch die Frankfurter Polizei
Die Tötung von Christy Schwundeck durch eine Polizistin in einem ehemaligen Jobcenter im Gallus zeigt die Überschneidung sexistischer und rassistischer Gewalt in Frankfurter Institutionen.
Christy Schwundeck, Mutter einer Tochter, lebte bereits 16 Jahre in Deutschland, als sie am 19. Mai 2011 in einem Jobcenter in der Mainzer Landstr. 315 durch die Folgen der Schüsse einer Polizistin getötet wurde. Frau Schwundeck, die 1995 mit einem Asyl-Antrag nach Deutschland kam und viele Jahre als Reinigungskraft arbeitete, litt nach ihrer Scheidung und der darauffolgenden Depression unter finanziellen Schwierigkeiten und bezog ALGII (umgangssprachlich: HarzIV). Als sie am 19. Mai um 8.30 Uhr das Jobcenter betratt, hatte sie seit Tagen kein Geld mehr zur Verfügung. In ihrer Verzweiflung bat sie den zuständigen Sachbearbeiter darum, ihr 10Euro des ihr zustehenden Arbeitslosengeldes bar auszuzahlen. Diese Auszahlung verweigerte der Sachbearbeiter und bot ihr stattdessen einen Essensschein an, welchen Schwundeck ihrerseits ablehnte. Er forderte sie daraufhin auf das Jobcenter zu verlassen, mit der Begründung, dass er nicht mehr für sie tun könne. Daraufhin blieb Christy Schwundeck sitzen und forderte das ihr zustehende Geld.
Warum der zuständige Sachbearbeiter Frau Schwundeck die 10Euro verweigerte, lässt sich nur mutmaßen. Denn eigentlich stand das Geld Frau Schwundeck nicht nur zu, auch die Leiterin des damaligen Jobcenters gab in einem Interview mit der Hessenschau an, dass die Auszahlung der 10Euro in bar durchaus möglich gewesen wäre. Es ist deshalb keineswegs abwegig, an dieser Stelle die Vermutung zu formulieren, dass es sich bei der Verweigerung der Auszahlung um eine Kombination aus Bevormundung und Diskriminierung handelt: Die Handlung des Sachbearbeiters lässt sich einerseits als eine Haltung deuten, die Frau Schwundeck bevormundet und meint, besser über ihre Probleme und ihre Lösungen urteilen zu können, als sie selbst. Andererseits lässt sich die Verweigerung auch als eine diskriminierende Handlung deuten, die Frau Schwundeck als Schwarze Frau gleichzeitig sexistisch und rassistisch behandelt. Denn Schwarze Frauen werden in der deutschen Gesellschaft „nicht nur“ diskriminiert, weil sie Frauen sind oder weil sie Schwarz sind, sondern weil sie beides, nämlich Schwarze Frauen sind. Was genau dieser letzte Punkt, die gleichzeitige sexistische und rassistische Diskriminierung, bedeutet, zeigt sich anhand der Beschreibung des Tatablaufes durch die anwesenden Personen.
In den Beschreibungen wird Frau Schwundeck durch eine Kombination aus Aggression, Unkontrolliertheit und Unberechenbarkeit charakterisiert. Eine Beschreibung, die auffällig viele Merkmale mit dem Bild der „angry Black woman“ teilt. Dieses Bild wird von Forschenden untersucht, um die sexistischen und rassistischen Zuschreibungen gegenüber Schwarzen Frauen aufzuzeigen. Dabei geht es um die Unterstellung, dass Schwarze Frauen hyperemotional wären und ihre vermeintlichen Aggressionen nicht im Griff hätten. Damit soll nicht ausgedrückt werden, dass Schwarze Frauen nicht Wut zeigen können, oder dass jede Beschreibung einer Schwarzen Frau als wütend, rassistisch wäre. Vielmehr geht es bei der sozialwissenschaftlichen Untersuchung des Bildes der „angry Black woman“ darum, zwei Dinge aufzuzeigen: Erstens, wie Schwarze Frauen nicht gemäß einer spezifischen Situation, sondern per se als wütend und aggressiv dargestellt werden; zweitens, wie Schwarze Frauen für berechtigte Wut (z.B. bei ungerechter Behandlung und systematischer Diskriminierung durch Gesellschaft und ihre Institutionen, wie z.B. Jobcenter) bestraft werden und als hyperemotional eingestuft werden. Diese Zuschreibung wirkt also doppelt diskriminierend, da die Betroffenen auf der Ebene ihres Geschlechts und der Ebene ihrer vermeintlichen Andersartigkeit als unkontrolliert, gemeingefährlich und aggressiv portraitiert werden, wogegen weißen Menschen in eben jenen Situationen dagegen oft Verständnis und Empathie entgegengebracht wird.
Nachdem Frau Schwundeck sich durch den Sacharbeiter nicht abwimmeln ließ, rief dieser den Sicherheitsdienst an, der Frau Schwundeck erneut aufforderte, zu gehen. Christy Schwundeck blieb erneut sitzen. Daraufhin ging ein Notruf bei der Polizei ein: Eine Frau würde sich weigern das Center zu verlassen und dabei randalieren. Dies ist die erste falsche Beschreibung, die im Lichte des Konstrukts der „angry Black woman“ steht. Als die Polizei — ein Polizist und eine Polizistin — eintraf, forderte sie Frau Schwundeck auf, ihre Ausweispapiere vorzulegen. Als der Polizist schließlich nach ihrer Stofftasche griff, die auf dem Tisch vor Christy Schwundeck lag, stach Frau Schwundeck mit einem Messer nach ihm. Die Polizistin, die einige Meter entfernt stand, lief laut der Beschreibung der Zeug*innen rückwärts und schoss Christy Schwundeck in den Bauch. Schwundeck wurde ins Krankenhaus gebracht und erlag dort der Schussverletzung. Die Staatsanwaltschaft erhob in Folge des Todes von Frau Schwundeck, trotz massiven Protests des in London lebenden Bruders von Christy Schwundeck, ihres ehemaligen Ehemannes und von Bürgerinitiativen keine Anklage gegen die Polizistin. Die Begründung lautete, dass die Polizistin eindeutig in Notwehr gehandelt habe.
Dass die Begründung der Staatsanwaltschaft sich kaum mit den Zeug*innenaussagen deckt, zeigt der folgende Widerspruch auf. Zunächst die Aussage der Polizistin, die den tödlichen Schuss abgegeben hat. Sie sagte aus, dass sie Frau Schwundeck aufgefordert habe, das Messer fallen zu lassen und führte aus: „Beim Ausrufen der dritten Warnung machte Frau Schwundeck eine Körperbewegung und dazu einen kleinen Schritt nach vorne auf mich zu. In diesem Moment habe ich dann den Schuss abgegeben.“ Allerdings hat keine*r der anderen anwesenden Zeug*innen im polizeilichen Protokoll angegeben, dass sich Schwundeck auf die Polizistin zubewegt hätte. So gab der verletzte Kollege der Polizistin folgendes an: „Die Kollegin wich zurück in den Flur und zog ihre Waffe bzw. bedrohte die Person mit der Waffe. Als ich mich wieder in Richtung der Dame drehen konnte, zog ich ebenfalls meine Waffe und zielte auf diese Dame. Bevor ich irgendetwas sagen konnte, hat die Kollegin dann schon geschossen.“ Weder der verletzte Polizist, noch der Sachbearbeiter oder der Sicherheitsdienst hat also eine Vorwärtsbewegung von Frau Schwundeck zu Protokoll gegeben.
Auch das Handeln der Polizistin, die Schwundeck erschoss, ließe sich mittels des Konstrukts der „angry Black woman“ deuten. Die Polizistin hat in Folge des Vorfalls ausgesagt: „Ich muss sagen, dass sie [Christy Schwundeck] in diesem Moment einen total irren Blick hatte, voller Aggression, Hass und Wut, ein für mich beängstigender Ausdruck.“ Die Beschreibung der Polizistin von Schwundeck als „voller Aggression, Hass und Wut“ deckt sich mit dem sozialwissenschaftlichen Verständnis des sexistischen und rassistischen Bildes der „angry Black woman“. Obwohl es sicherlich nachvollziehbar ist, Angst zu bekommen, wenn eine Person ein Messer in der Hand hält, ist doch zu bezweifeln, dass die einzige Möglichkeit der Polizistin war, Frau Schwundeck zu erschießen. Sie hat weder einen Waffenwechsel durchgeführt, noch einen Warnschuss abgegeben oder gar auf eine deeskalierende Taktik, wie den Versuch Christy Schwundeck zu beruhigen, zurückgegriffen. Und selbst wenn der Schuss auf die Person nötig gewesen wäre, bleibt die Frage offen, warum die Polizistin nicht auf die Beine von Frau Schwundeck gezielt hat. Was hiermit ausgedrückt werden soll ist also, dass das sexistische und rassistische Bild der „angry Black woman“ zum Empfinden einer unverhältnismäßigen Bedrohung geführt hat, die die Polizistin nur durch das Erschießen von Frau Schwundeck aufzulösen vermochte. Die Polizei hat nicht nur in ihrer Ausbildung, sondern auch in ihrer alltäglichen Praxis häufig mit vergleichbaren Bedrohungssituationen zu tun, die keineswegs stets zu Toten führen. Dass Christy Schwundeck allerdings erschossen wurde, obwohl sie sich nicht auf die Polizistin zubewegt zu haben scheint und der Polizistin scheinbar auch andere Handlungsmöglichkeiten offen standen, lässt sich folglich durch die sexistische und rassistische Konstruktion von Christy Schwundeck als „angry Black woman“ verstehen.
Ein Gerichtsverfahren gegen die Polizistin wurde, wie erwähnt, nie eröffnet. Die Staatsanwaltschaft beharrte auf ihrer Begründung, dass Frau Schwundeck auf die Beamtin zugelaufen sei und es sich folglich um Notwehr und keine vorsätzliche Tötung handelte. Diese Begründung scheint sich allerdings nicht mit den Zeug*innenaussagen zu decken. Außerdem verhinderte die Staatsanwaltschaft somit, dass die Entscheidung über das Verhalten der Polizistin einem Gericht überlassen wird — also derjenigen Instanz, die eigentlich für ein solches Urteil zuständig wäre.
Quellen:
Ashley, Wendy (2013). The Angry Black Woman: The Impact of Pejorative Stereotypes on Psychotherapy with Black Women. In: Social Work in Public Health (Issue 1, Vol.29), p. 27-34.
www.mediathek-hessen.de/medienview_5449_Moussa-Ouedraogo-OK-Offenbach-Frankfurt-ICS--Die-Initiative-Christy-Schwundeck-stellt-sich-vor.html
kop-berlin.de/veranstaltung/initiative-christy-schwundeck-demonstration-fur-ein-ende-rassistischer-polizeigewalt-und-gegen-institutionellen-rassismus
www.spiegel.de/panorama/justiz/verfahren-gegen-polizistin-eingestellt-die-frau-in-jobcenter-erschoss-a-823155.html
initiative-christy-schwundeck.blogspot.com
www.widerspruch-sozialberatung.de/PDF/Baustelle/NeueRheinzeitung%20TodFrankfurt%206-11.pdf
www.labournet.de/politik/erwerbslos/arbeitsamt/schikanen/christy-schwundeck/
archiv.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/zwang/polizei.html
akcs.blogsport.eu/2012/11/20/gewonnen-haben-wieder-die-die-immer-gewinnen/
www.bbc.com/news/world-us-canada-45476500
www.spiegel.de/panorama/angry-black-woman-ueber-rassismus-wut-und-wie-ich-meine-schoenheit-erkannte-a-9724d17f-2580-4df5-9d0b-6c468ec78e1f
Diesel- und Kruppstraße
Die über 600 Jahre währende Geschichte des Rassismus gegenüber Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland gipfelte im Nationalsozialismus. Doch auch nach dem NS-Regime erfuhren und erfahren Sinti*zze und Rom*nja die Fortführung rassistischer Unterdrückung und Verfolgung. So beschreibt Isidora Randjelović wie nach 1945 zum Teil nicht nur dieselben Methoden zur Verfolgung und Unterdrückung fortgeführt wurden, sondern auch noch dieselben Täter*innen diese umsetzten (Randjelović, 9ff.). Dass der Rassismus gegenüber Sinti*zze und Rom*nja ungebrochen andauert, verweist auf die Notwendigkeit sich mit dem Porajmos (dem nationalsozialistischen Genozid an Sinti*zze und Rom*nja) auseinanderzusetzen, um somit den fortwährenden Rassismus gegenüber Sinti*zze und Rom*nja zu verstehen und zu bekämpfen.
Da Sinti*zze und Rom*nja den Nazis als „artfremd“ (Rose, 29) und dementsprechend als von der restlichen deutschen Bevölkerung „abzusondern“ galten (ebd., 14), trafen sie bereits mit dem Beginn des NS-Regimes 1933 heftigste Diskriminierungen. Die Nazis verstanden Sinti*zze und Rom*nja als „fremdrassig“ und planten einen Genozid an ihnen. So wurden deutsche Sintizze und Romnja im Zuge des 1933 erlassenen Gesetzes zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zwangssterilisiert; ab 1935 wurden alle Sinti*zze und Rom*nja durch die sogenannten „Nürnberger Gesetze“ als Eindringlinge markiert und systematisch aus der Gesellschaft ausgeschlossen — wie durch Verbote jegliche Kultureinrichtungen zu betreten oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren —; schließlich wurde 1936 das erste Konzentrationslager für Sinti*zze und Rom*nja in Berlin-Marzahn erbaut. Spätestens ab 1938 forderte Heinrich Himmler dann die endgültige Vernichtung der europäischen Sinti*zze und Rom*nja an — einem Zeitpunkt, an dem die Meisten bereits in Konzentrations- oder Vernichtungslager verschleppt worden waren (ebd., 14f.).
Die Deportationen der deutschen Sinti*zze und Rom*nja war die Vorbereitung des Genozids an ihnen. Um die Deportationen in Konzentrations- und Vernichtungslager zu koordinieren, richteten die Nazis in oder in der Nähe der deutschen Großstädte Lager ein, in denen Sinti*zze und Rom*nja zur Massendeportation gesammelt wurden und die oft selbst KZ-ähnliche Zustände bereit hielten. In diesen „Kommunalen Konzentrationslagern“ (Rose) wurden die internierten Menschen zu härtester Zwangsarbeit genötigt. Außerdem führten pseudowissenschaftliche Biolog*innen und sogenannte „Rassenforscher“ des NS-Regimes in diesen kommunalen KZs erzwungene Untersuchungen an Sinti*zze und Rom*nja durch. Obwohl die Lage der kommunalen KZ bereits verheerend war — Zwangsarbeit, Degradierung zu Testobjekten, Mangelernährung, Krankheiten und willkürliche Gewalt von Polizei und SS sind nur einige Beispiele —, verschlimmerte sich diese ab Kriegsbeginn erneut. Das „Dokumentations- und Kulturzentrum deutscher Sinti und Roma“ beschreibt die Lage der kommunalen KZ ab 1939 wie folgt: „Nach Kriegsbeginn waren die Kommunalen Konzentrationslager Durchgangsstationen in die Todeslager des Ostens.“ (Rose, 45)
Eines dieser kommunalen KZs wurde 1937 auf Initiative der NSDAP-Kreisleitung in Frankfurt am Main errichtet. Das zunächst in der Dieselstraße, im Osten Frankfurts, gelegene Lager war von Stacheldraht umzäunt, wurde genauestens und rund um die Uhr bewacht und war in einem katastrophalen Zustand. 1937 fasste das Lager 122 Häftlinge; nach Beginn des Kriegs bereits ca. 300, die aus dem gesamten Verwaltungsgebiet der NSDAP-Kreisleitung verschleppt wurden. Die Häftlinge durften das Lager nur zur Arbeit verlassen; die Kinder nur zur Schule. Der Frankfurter Sinto Herbert Adler beschreibt die Situation in den zur Unterbringung aufgestellten Bauwagen im Lager wie folgt: „Dort [im Lager und in den Bauwägen] gab es kein Licht, kein Gas, keine Elektrizität, kein gar nichts. Es waren keine Toiletten vorhanden, kein Wasser — es war grausam.“ (ebd., 47)
In den folgenden Jahren verschlimmerte sich die Lage durch drei Ereignisse. Erstens begann die sogenannte „Rassenhygienische Forschungsstelle“ ab 1940 mit pseudowissenschaftlichen „rassenbiologischen Untersuchungen“ (ebd., 46). Zweitens wurde das Lager 1942 in die Kruppstraße verlegt, da die Rüstungsfirma Matra das Gelände in der Dieselstraße für die Rüstungsproduktion benötigte — wofür die Firma auf Zwangsarbeit von Kriegsgefangen zurückgriff. Im Zuge der Verlegung wurde auch die Lagerverordnung verschärft. So durften nun Kinder nicht mehr zur Schule gehen, sondern mussten auch Zwangsarbeit leisten. Drittens wurde 1943 die Deportation der Sinti*zze und Rom*nja aus dem Lager in der Kruppstraße in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau angeordnet. So wurden im März 1943 etwa die Hälfte der verbliebenen Lagerhäftlinge — mindestens 89 wurden im Lager getötet — über den Ostbahnhof nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Fast alle Sinti*zze und Rom*nja, die die Deportation überlebten, wurden umgehend nach ihrer Ankunft im Vernichtungslager ermordet.
Alle Hauptbeteiligten der grauenhaften Unterdrückung, Ausbeutung und Vernichtung der Frankfurter Sinti*zze und Rom*nja wurden weder verfolgt, noch angeklagt. So beispielsweise Eugen Robert Ritter der Leiter der sogenannten „Rassenhygienische Forschungsstelle“, die in Zusammenarbeit mit der Polizei Sinti*zze und Rom*nja aus ganz Deutschland „begutachteten“, um den Porajmos zu legitimieren. Ritter bekam 1947 gar einen hohen Posten im Gesundheitsamt Frankfurt und führte die rassistische Verfolgung und Unterdrückung der Sinti*zze und Rom*nja ungestraft fort.
Quellen
Rose, R. (1995): Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma (1. Aufl.), Heidelberg: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma.
www.erlebnisraum-frankfurt.de/reportagen/stadtteile/259-die-ns-internierungslager-fuer-sinti-und-roma-in-frankfurt.html
www.foerdervereinroma.de/romaffm/mahntaf/mahntaf.htm
www.vielfalt-mediathek.de/data/expertise_randjelovic_rassismus_gegen_rom_nja_vielfalt_mediathek_1.pdf
Ehemalige Großmarkthalle an der EZB/Hafenpark
Spätestens ab 1941, nach dem Einmarsch der deutschen Armee in die Sowjetunion, begannen die Nationalsozialist*innen Juden:Jüdinnen systematisch in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager zu deportieren. Zunächst wurde der Genozid durch Massenerschießungen begangen. Da der NS-Führung dieses Vorgehen allerdings zu ineffizient war, ging man bereits 1941 in Auschwitz das erste Mal zu Massenmorden durch Gas über. Der als „Endlösung der Judenfrage“ propagierte Plan zur systematischen Vernichtung jüdischen Lebens forderte schließlich das Leben von ca. sechs Millionen Juden:Jüdinnen aus ganz Europa, Nordafrika und der ehemaligen Sowjetunion. Um diesen Genozid, die Shoah, durchzuführen, war die systematische Deportation notwendige Bedingung für das NS-Regime. Die ehemalige Frankfurter Großmarkthalle ist einer der Orte, die für die Durchführung dieses unsagbaren Verbrechens genutzt wurden.
Bildquelle: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt
Die ehemalige Frankfurter Großmarkthalle, die sich auf dem Gebiet der heutigen EZB befand, wurde von der Frankfurter Stadtverwaltung und der Gestapo aufgrund ihrer großen Lagerräume im Keller der Anlage und aufgrund der besonders guten Anbindung der Markthalle an das deutsche Schienennetz ausgewählt. Besonders der östliche Teil der ehemaligen Markhalle diente dem Nazi-Regime als Sammelpunkt für die Zwangsdeportationen der jüdischen Bevölkerung. Insgesamt 10 Massendeportationen mit ca. 8.500 jüdischen Frankfurter*innen wurden allein zwischen Oktober 1941 und September 1942 von der Großmarkthalle organisiert und durchgeführt. Von diesen ca. 8.500 jüdischen Menschen überlebten nur ca. 200 die Befreiung 1945 (Kingreen, 153).
Anhand ihres Strebens nach Systematik und Effizienz zeigt sich der widerliche und unsagbare Vernichtungswille der Nazis: Es sollten restlos alle Juden:Jüdinnen vernichtet sowie ihr Eigentum angeeignet werden, und das mit minimalem Aufwand und Kosten. Für die erste Massendeportation am 19. Oktober 1941 wurden mehr als 1.100 Juden:Jüdinnen nach dem Maßstab der „frei werdenden“ Wohnungen, Vermögen und Güter ausgewählt (ebd.). Aber auch die Mitschuld der nicht-jüdischen Frankfurter*innen wird anhand der Deportationen über die Großmarkthalle deutlich: Organisiert und durchgeführt wurden die Deportationen zwar von den offiziellen Institutionen des NS-Regimes, möglich waren diese dennoch lediglich aufgrund der (Un-)Tätigkeit der nicht-jüdischen Bevölkerung Frankfurts. Denn bereits die erste Massendeportation fand am helllichten Tage und unter den Blicken der nicht-jüdischen Frankfurter*innen statt. Nachdem die SA, die die Befehle und Anordnungen von Gestapo und Stadtverwaltung ausführte, unangekündigt die Wohnungen der über 1.100 Juden:Jüdinnen stürmte und sie dazu aufforderte ihre Wohnungen zu verlassen, mussten sie sich Schilder mit ihrem Namen, Geburtsdatum und einer Kennnummer umhängen. Aus ihren Wohnungen vertrieben und auf ein Schild mit Nummern reduziert, mussten die Frankfurter Juden:Jüdinnen zu Fuß und unter den Blicken der Schaulustigen zum Teil den gesamten Anlagenring der Stadt bis zur Großmarkthalle laufen; dies wohlangemerkt an einem Wintertag und unter dokumentierten Beleidigungen und Bespuckungen durch die nicht-jüdischen Frankfurter*innen. Und auch Gleis- oder Bahnarbeitende, Markthallenangestellte oder Polizist*innen haben sich entweder durch Zuschauen oder aktive Teilhabe an den Deportationen am Menschenrechtsverbrechen der Shoah schuldig gemacht.
Knapp einen Monat nach der ersten Deportation erfolgte am 11. November 1941 die zweite Massendeportation, erneut von über 1.000 Juden:Jüdinnen. Dieses Mal wurden hauptsächlich Familien deportiert. Diese Entscheidung wurde maßgeblich von den ortsansässigen Unternehmen beeinflusst. Diese hatten sich nach der ersten Deportation beschwert, dass ihnen Teile ihrer Produktionskraft genommen wurden. Deshalb wurden neben Familien besonders Juden:Jüdinnen ausgewählt, die „nicht in volkswirtschaftlich wichtigen Betrieben beschäftigt sind“ (ebd., 162). Außerdem wurde dieses Mal die jüdische Gemeinde Frankfurts selber dazu gezwungen die Listen mit den Namen zur Deportation anzufertigen. Nachdem der Gestapo die Umsetzung der ersten Deportation durch die SA nicht brutal und effizient genug durchgeführt worden war, übernahm außerdem die Gestapo mit Hilfe der SS die zweite Deportation.
Die Grausamkeit der Nazis gegenüber jüdischen Menschen zeigte sich auch an den sogenannten „Leibesvisitationen“ und den folgenden Deportationen. Die sogenannten „Leibesvisitationen“, die im Keller der Großmarkthalle durchgeführt wurden, dienten dem NS-Regime zur Einteilung der Deportierten in unterschiedliche Klassen. Manche wurden direkt zur Ermordung freigegeben, wogegen andere aufgrund ihrer leiblichen Tüchtigkeit in Zwangsarbeitslager deportiert wurden. Außerdem diente diese Praxis der massiven Misshandlung und Herabwürdigung der Juden:Jüdinnen. Die folgenden Deportationen hingegen setzten auf das Undenkbare noch grausamere Praktiken drauf. Wer nicht in ein Ghetto, wie in Łódź, Minsk, Izbica oder Theresienstadt deportiert wurde und dort die täglichen Qualen aus Hunger, Krankheit, Seuchen, Frost und Erschießungen erleiden musste, war dem Terror der Konzentrations- und Vernichtungslager ausgesetzt, in welchen härteste Zwangsarbeit und Vergasung auf der Tagesordnung standen. So wurden bei der dritten Massendeportation nahezu 1.000 Juden:Jüdinnen aus Frankfurt zusammen mit anderen Menschen aus Berlin und München in der Unwissenheit gelassen, was mit ihnen geschehen würde, nur um sie alle am nächsten Morgen auf einer Wiese mit in den Büschen versteckten Maschinengewehren zu erschießen. Auch die Grausamkeit der sechsten Massendeportation am 11. Juni 1942 lässt sich kaum fassen: Nachdem bereits ab der dritten Deportation auch wieder Arbeitende verschleppt wurden, diente diese Deportation erneut Frauen, Kindern und Männern über 50. Diese Menschen wurden alle umgehend in das Konzentrationslager Lublin-Majdanek und in das Vernichtungslager Sobibór verschleppt, um dort restlos vergast und erschossen zu werden.
Quellen
Kingreen, M. (2016). Die Großmarkthalle und die gewaltsame Verschleppung der jüdischen Bevölkerung Frankfurts und dessen Regierungsbezirks Wiesbaden ab 1941 bis 1945. In: Gross, R. & Semmelroth, F. (Hrsg.), Erinnerungsstätte an die Frankfurter Großmarkthalle. Die Deportation der Juden 1941-1945. München/London/New York: Jüdisches Museum Frankfurt und Prestel Verlag.
Gedenkstätte am Neuen Börneplatz/ehemaliges „Jüdisches Ghetto“
Die Geschichte des Antisemitismus beginnt in ganz Deutschland und Europa nicht erst mit dem Nationalsozialismus. Antisemitismus hat eine deutlich längere Geschichte, die den Nährboden gelegt hat, auf welchem später die unsagbaren Verbrechen des Nationalsozialismus begangen wurden. Auch in Frankfurt beginnt die Geschichte des Antisemitismus weitaus früher als mit der Errichtung des NS-Staates. Das ehemalige jüdische „Ghetto“, das sich an der heutigen Judengasse befand, ist sowohl Zeuge des frühen Antisemitismus in Frankfurt als auch der Untrennbarkeit von jüdischer und Frankfurter Geschichte sowie deren Kämpfe um Anerkennung.
Das ehemalige jüdische Ghetto existierte seit 1462 inmitten Frankfurts und beheimatete die größte jüdische Gemeinde Deutschlands der Neuzeit. Ein Ghetto ist ein abgegrenzter Stadtteil, in dem marginalisierte Bevölkerungsgruppen per Zwang leben müssen. Innerhalb der Mauern des Frankfurter Ghettos war der einzige Ort, an dem jüdisches Leben möglich war. Juden:Jüdinnen war es nicht nur verboten, außerhalb des Ghettos zu wohnen, sie durften die Mauern und geschlossenen Tore des Ghettos außerdem nicht zur Nacht oder zu christlichen Feiertagen verlassen. Daran zeigt sich die frühe Form des Antisemitismus, die bereits eine eindeutige Trennung zwischen den nicht-jüdischen Bürger*innen und den von Bürgerrechten ausgeschlossenen Juden:Jüdinnen machte.
1811 folgte dann die Aufhebung des Ghettozwangs sowie die Einführung des Status „gleichberechtigter Bürger“ für Frankfurter Juden:Jüdinnen, der allerdings keine reale Gleichberechtigung mit sich brachte. In Folge der Aufhebung des Zwangs erlebte die Stadt eine massive Abwanderung der Juden:Jüdinnen in andere Stadtteile und den stückweise voranschreitenden Verfall des ehemaligen Ghettos, bis dieses schließlich 1870 weitgehend abgerissen wurde. Außerdem folgte eine Umbenennung der wichtigsten Straßen und Plätze des ehemaligen Ghettos: Die „Judengasse“ und der „Judenmarkt“, die das Zentrum des Ghettos bildeten, wurden nach dem berühmten jüdisch-deutschen Schriftsteller Ludwig Börne in „Börnestraße“ und „Börneplatz“ umbenannt. Und auch eine neue Synagoge, die 1882 eingeweihte Börneplatzsynagoge, wurde am Rande des jüdischen Friedhofs errichtet, der sich heute noch auf dem Börneplatz finden
lässt.
Bildquelle: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt
Mit der Errichtung des NS-Staates 1933 geschah die massive, bis heute unvergleichbare Zäsur in der jüdisch-deutschen Geschichte. Die Nationalsozialist*innen entzogen den Juden:Jüdinnen sämtliche Rechte und strebten die restlose Vernichtung jüdischen Lebens an. Der erste Versuch dieser Vernichtung in Frankfurt startete mit der Umbenennung von Börneplatz und -straße in Dominikanerplatz und -straße gemäß dem Dominikanerkloster, welches sich gegenüber der Synagoge befindet. Mit den Novemberpogromen in der Nacht vom 9. auf den 10. November im Jahr 1938 nahm sich die antisemitische Vernichtungswut der Nationalsozialist*innen auch die materiellen Beweise jüdischen Lebens vor: Die Börneplatzsynagoge wurde in Brand gesteckt, Wertgegenstände wurden geplündert und die Überreste wurden per Zwangsverkauf enteignet. 1942 organisierten die Nazis über die ehemalige Großmarkthalle die Massendeportationen jüdischer Menschen in Konzentrations- und Vernichtungslager (siehe „ehemalige Großmarkthalle“). Außerdem ordnete der Frankfurter Oberbürgermeister an, den jüdischen Friedhof als „Schuttabladestelle“ (Felicitas Heimann-Jelinek, 46) zu nutzen. Der Plan des Oberbürgermeisters scheiterte zwar aufgrund bürokratischer Probleme; der Wille zum Genozid zeigte sich dennoch, indem Jahrhunderte alte Gräber maschinell zerstört wurden.
Nachdem der Platz im Krieg bombardiert und der Friedhof in der Nachkriegszeit letztlich doch als Schuttablade genutzt wurde, enthüllten die US-Truppen, die damals mitunter in Frankfurt stationiert waren, am Börneplatz die erste Gedenktafel, die an den Genozid an den europäischen Juden:Jüdinnen in Frankfurt erinnern sollte. Die nach 1945 notwendige Entnazifizierrung und Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Schuld am Genozid an den Juden:Jüdinnen, Rom*nja und Sinti*zze sowie die Vernichtung ihrer Orte blieb jedoch nahezu komplett aus. Stattdessen tat man alles, um sich nicht mit der eigenen Geschichte und Schuld auseinandersetzen zu müssen. Das Motto war: Solange es keine Orte der Erinnerung, keine Überreste oder Denkmäler gibt, gibt es auch keine Schuld, mit der man sich auseinander setzten müsste. So stand ab den 1960er Jahren auf dem Börneplatz eine Tankstelle und ein Parkplatz. Die Forderungen jüdischer Rückkehrer*innen, eine Gedenkstätte am Börneplatz zu errichten, wurden abgewiesen. Lediglich der Friedhof blieb. Allerdings im gleichen zerstörten Zustand, wie nach dem Krieg.
1978 gab es dann eine erste kleine Annäherung an das Thema des Genozids an den Juden:Jüdinnen: Der „Dominikanerplatz“, dessen Name aus der NS-Zeit stammte, wurde wieder in „Börneplatz“ umbenannt. Doch erst 1984 kam Bewegung in die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit am Börneplatz, als der sogenannte „Börneplatzkonflikt“ bundesweit Aufsehen erregte: die Stadtverwaltung Frankfurts plante den Bau eines Verwaltungsgebäudes auf dem Börneplatz. Bei den Grabungen wurden Fundamente von Häusern und Überreste der Mikwe des ehemaligen Ghettos freigelegt. Doch die Stadt Frankfurt weigerte sich anzuerkennen, dass der Fund das Auftauchen „der ältesten materiellen Belege für jüdische Geschichte Frankfurts [bedeutete]“ (Felicitas Heimann-Jelinek 51). Auf die immer noch umgreifende und blinde Ignoranz von Stadt und Bauleitung „formierte sich ein massiver Bürgerprotest gegen die geplante neuerliche Auslöschung jüdischer Geschichte in Frankfurt“ (ebd.). Schließlich folgte am 28. August 1987 eine Besetzung des Börneplatzes, die anschließend von der Polizei geräumt wurde. Die Stadtverwaltung wehrte sich also noch Ende der 80er Jahre vehement dagegen, die Notwendigkeit von Räumen des Gedenkens und des Erinnerns anzuerkennen. Aus der Verzweiflung sämtlicher Erinnerungen beraubt zu werden, stimmte die jüdische Gemeinde schließlich einem „Kompromiss“ der Stadt zu, der beinhaltete, dass die Mikwe und die Fundamente von fünf ehemaligen Häuser aufgebaut werden und ein Museum errichtet wird. Letzteres ist das Museum „Judengasse“, das heute am Börneplatz besucht werden kann.
Quellen
Heimann-Jelinek, Felicitas (2016). Ort der Erinnerung: Von der Judengasse zum Börneplatz. In: Backhaus, Fritz. Gross, Raphael. Kößling, Sabine. Wenzel, Miriam. (Hrsg.), Die Frankfurter Judengasse. Geschichte Politik Kultur (S. 40–59). München: C.H. Beck.
www.welt.de/kultur/history/gallery106503530/Die-Frankfurter-Judengasse-Stationen.html
Hülya-Platz
Trotz seiner geringen Größe steht der Hülya-Platz, der sich am Ende der Leipzigerstraße im Stadtteil Bockenheim befindet, für etwas Besonderes: Der im Herbst 1998 eingeweihte Platz ist der erste, der an die Opfer rechten, rassistischen und neonazistischen Terrors nach 1945 in Deutschland erinnert. Der Name des Platzes erinnert an die 9-jährige Hülya Genç und die weiteren vier Mordopfer aus ihrer Familie — Gürsün Ince, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Saime Genç —, die dem rassistischen und neonazistischen Pogrom von Solingen vom 29. Mai 1993 zum Opfer gefallen sind. Allerdings geht die Errichtung des Gedenkortes Hülya-Platz weder auf die Stadt Frankfurt noch auf die Bundesrepublik oder die Betroffenen, sondern auf eine Bürgerinitiative zurück. So zeugt der Hülya-Platz davon, dass Erinnerungskultur in Deutschland stets auf hart erkämpften Widerstandspraktiken beruht, egal ob diese auf dem Handeln von politischen Organisationen oder den Opfern selbst beruht.
Zunächst ist von massiver Bedeutung, dass der Mordanschlag von Solingen keineswegs einen der heutzutage soviel beschworenen Einzelfälle darstellt. Ganz im Gegenteil: Er stellt den Höhepunkt der rechten und rassistischen Gewalt der 1990er Jahre in Deutschland dar. Ihm vorausgegangen sind die Pogrome von Hoyerswerda (1991), Rostock-Lichtenhagen (1992) und Mölln (1992) sowie der alltägliche Rassismus der deutschen Gesellschaft. In den auf die Wiedervereinigung folgenden 1990er Jahren reagierten Politik, Medien und Gesellschaft in äußerst rassistischer Manier auf die Flüchtenden aus dem ehemaligen Jugoslawien und die in der Türkei verfolgten Kurd*innen. Rassistische Begriffe, wie die der „Überfremdung“ oder der „Asylflut“, die durch rechte Parteien wie die CDU, AfD heute wieder eine Hochkonjunktur erleben, prägten auch damals die Debatten in Politik, Medien und Gesellschaft. Die rassistischen Argumentationsmuster befeuerten schließlich auch militante Rechte und ihre rassistisch motivierten Gewalttaten. So stieg die Zahl der durch rassistische Tatmotive Ermordeten laut einer Zählung der Amadeu Antonio Stiftung von 1990 bis 1992 von sieben auf 27 Opfer. Die Pogrome von Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992) markieren somit den Beginn einer ganzen Anschlagsserie auf Asylunterkünfte und Wohnungen von Menschen mit Migrationshintergrund. Die Menschen wurden von Mobs angegriffen, vertrieben und ihre Wohnungen mit Fischen, Steinen und Brandsätzen beworfen. Einige Menschen starben bei den Brandattacken, die in der Nacht durchgeführt wurden, als die Bewohner*innen der Unterkünfte und Wohnungen schliefen: So wurden die 10-jährige Yeliz Arslan, die 14-jährige Ayşe Yılmaz sowie die 51-jährige Bahide Arslan bei einem Brandanschlag in Mölln (1992) ermordet.
In Folge der Anschläge spitze sich der rassistische Diskurs in Deutschland auf einen neuen Höhepunkt zu: Den Opfern selbst wurde die Schuld für die Mordanschläge zugeschoben. Dieser unfassbar rassistische Fall einer Täter-Opfer-Umkehr wurde 1993 durch eine Grundgesetzänderung begleitet, den sogenannten „Ayslkompromiss“, der das Recht auf Asyl in Deutschland massiv einschränkte. Drei Tage später, am 29. Mai 1993, ereignete sich der Mordanschlag auf die Familie Genç, die zwar aus der Türkei kam, aber nicht geflüchtet war. Dass die deutsche Gesellschaft an diesem Punkt erneut verpasst hat, ihr rechtes und rassistisches Strukturproblem aufzuarbeiten, zeigte sich wenige Jahre später in der Terrorserie des NSU und dem Erstarken der sogenannten Neuen Rechten.
Lediglich die Selbstorganisation von Betroffenen und Initiativen haben das Strukturproblem des Rassismus und Rechtsterrorismus in der deutschen Gesellschaft erkannt, aktiv zu bekämpfen versucht und den Ermordeten die ihnen gebührende respektvolle Ehre erwiesen. Ein Beispiel für die aktive Erinnerung an die Ermordeten rechter und rassistischer Gewalt stellt der Hülya-Platz in Bockenheim dar. Allerdings zeigen die Debatten, die wegen dieses öffentlichen Erinnerungsortes geführt wurden, den Widerwillen der deutschen Öffentlichkeit und Politik diese Orte zu akzeptieren oder gar zu unterstützen. Die Debatte um den „hammering man“ vom Hülya-Platz soll dafür paradigmatisch stehen.
Der hammering man ist ein Werk des US-amerikanischen Künstlers Jonathan Borofsky, das einen übergroßen Menschen darstellt, der einen Hammer in der rechten Hand hält und diesen auf einen Gegenstand in seiner linken Hand zu bewegt, um danach wieder auszuholen. Die Bewegung des Ausholens und des Ansetzens sind dabei in derselben Geschwindigkeit. Der hammering man soll den Wert der Arbeit darstellen und als Symbol für Solidarität unter Menschen stehen. Das Werk steht in mehreren Städten der Welt, u.a. in Seoul, Basel, NYC, Lillestrøm und zwei Versionen in Frankfurt am Main. Jedoch stammt nur eine der beiden Versionen in Frankfurt vom Künstler selber, nämlich die vor dem Messeturm. Die zweite Version des hammering man in Frankfurt am Main, eine inoffizielle lebensgroße Nachbildung, findet sich auf dem Hülya-Platz und enthält wichtige Abweichungen vom Original. Zumal ist die Statue mit ca. 170 cm lebensgroß und zweitens hält sie ein zertrümmertes Hakenkreuz in der Hand, auf die der Hammer in immer gleichen Bewegungen schlägt. Außerdem ist die Statue, drittens, mit einer Kurbel ausgestattet, die erlaubt die Bewegung des Hammers selbst durchzuführen. Im Vergleich zum Original vollführt der hammering man seiner Hammerbewegung auf das Hakenkreuz nicht automatisch, sondern muss durch das Kurbeln angetrieben werden.
Nun soll es im Folgenden allerdings nicht um die künstlerischen Unterschiede der beiden Frankfurter hammering men und deren mögliche Bedeutung, sondern um die Debatte um den hammering man vom Hülya-Platz gehen. 1995 wurde der erste hammering man auf dem Hülya-Platz aufgestellt, also bereits drei Jahre bevor dieser Platz seinen heutigen Namen bekam. Dieser wurde von Antifaschist*innen ohne Genehmigung der Stadt aufgestellt. Da dieser hammering man auf großen Zuspruch der Bevölkerung stieß, hat die Stadt Frankfurt beschlossen ihn vorerst stehen zu lassen. Erst 2007, zwölf Jahre nach seiner Errichtung, traf die Stadt den Beschluss den hammering man vom Hülya-Platz zu entfernen; ihre Begründung: der hammering man wurde mehrmals von Rechten beschmutzt und beschädigt und außerdem seien seine scharfen Kanten mittlerweile zu einer Bedrohung für die Öffentlichkeit geworden.
Anstatt einen neuen hammering man aufzustellen oder den alten zu reparieren, beschloss die Stadt Frankfurt also, dass er aus dem Stadtbild zu entfernen sei. In Folge der Entfernung des ersten hammering man durch die Stadt wurde 2010 durch eine Initiative ein Ersatz-hammering man auf dem Hülya-Platz eingeweiht, der allerdings erneut Zerstörung und Vandalismus zum Opfer fiel. Schließlich sponserte eine Bockenheimerin 2013 den hammering man, der auch heute noch auf dem Hülya-Platz steht. Die Stadt Frankfurt wollte allerdings auch diesen nicht stehen lassen: Nach einer rechtlichen Prüfung, war die Stadt der Ansicht, dass es sich beim hammering man vom Hülya-Platz um ein Plagiat handle und befürchtete, dass der Künstler Borofsky um Schadensersatz klagen würde. Außerdem war die Stadt der Meinung, dass das zerstörte Hakenkreuz in der linken Hand des hammering man — wohlgemerkt die Hand auf welche der Hammer kontinuierlich einschlägt, sobald die Kurbel betätigt wird — das Stadtbild verschmutzen würde. Nachdem der Künstler allerdings auf sämtliche rechtliche Schritte verzichtete und ein Bürger*innenprotest sich für den Erhalt des hammering man vom Hülya-Platz in seiner Gänze einsetzte, legte auch die Stadt Frankfurt ihre Ambitionen nieder, den hammering man vom Hülya-Platz komplett aus dem Stadtbild zu entfernen.
Am 29. Mai 2017 — dem 24. Jahrestag des rechtsterroristischen und rassistischen Anschlags von Solingen — wurde der hammering man durch eine vom Türkischen Volkshaus organisierte Gedenktafel ergänzt. Auch dieser Erinnerungsgegenstand war keine Selbstverständlichkeit, sondern musste von den Mitgliedern des Türkischen Volkshauses hart erkämpft werden; wie vorher schon der hammering man.
Das mangelnde Verständnis von Politik und großen Teilen der Gesellschaft für öffentliche Erinnerungsorte bezeugt die Notwendigkeit von Selbstorganisation gegen die Kontinuität des Rassismus und Antisemitismus in Deutschland. Letztlich steht der hammering man für die Rückeroberung und Politisierung öffentlicher Plätze durch Bürger*innen und Betroffene. Das Türkische Volkshaus Frankfurt resümiert in einem Aufruf von 2011 zur Wiedererrichtung des hammering man vom Hülya-Platz, dass dieser ein Symbol „für alle Menschen [darstellt], die sich gegen faschistische und rassistische Tendenzen, gegen Fremdenhass und Diskriminierung von Minderheiten zur Wehr setzen.“
Quellen
www.fnp.de/frankfurt/mahnmal-gegen-blinden-hass-10482838.html
www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/161980/brandanschlag-in-solingen
www.wikiwand.com/de/Mordanschlag_von_Solingen
www.frankfurter-info.org/news/gedenken-an-den-rassistischen-brandanschlag-in-solingen-der-hammering-man-muss-wieder-auf-den-hulya-platz
IG-Farben-Gebäude
Die Geschichte der Interessengemeinschaft Farbenindustrie (I.G. Farben) zählt nur 20 Jahre. Diese 20 Jahre Firmengeschichte zeugen allerdings von massiven Menschenrechtsverbrechen und einer Profitgier, die nicht vor einer Gleichschaltung zum NS-Regime zurückschreckte. Die IG Farben wurde am 9. Dezember 1925 als Zusammenschluss der Firmen Bayer, BASF, Agfa, Griesheim-Elektron, Weiler-ter Meer und Hoechst gegründet. Zwischen 1925-1945 stieg die IG Farben zu einem der größten Konzerne weltweit auf. Ein bedeutender Anteil dieser „Erfolgsgeschichte“ sowie des Umsatzes des Unternehmens stammen aus den Jahren 1933-1945. Die IG Farben begleitete eine äußerst wichtige Rolle in Hitlers Autarkie- und Aufrüstungsvorhaben. Die Firma hat also massiv vom NS-Regime profitiert, indem sie sowohl jüdische Firmen abgepresst hat als auch auf Zwangsarbeit zurückgegriffen und KZ-Häftlinge als Versuchsobjekte missbraucht hat (Hayes 2001, S. 1-12).
Bereits 1934 hat die IG-Farben mit ihrem Werkscode Hitler die Treue geschworen und diese 1939 in einem deutlicheren Code nochmals untermauert. So wurden ab 1934 auch jüdische Mitarbeiter*innen systematisch aus der Firma gedrängt (S. 70-125). Außerdem hat die IG Farben, die wie alle deutschen Konzerne während des Krieges Personalmangel hatte, ab 1939 auch auf Zwangsarbeit zurückgegriffen. Unter den Zwangsarbeitenden befanden sich besonders Gefangene aus der ehemaligen Sowjetunion, Polen und Frankreich, zu denen auch Kämpfende aus den nordafrikanischen Kolonien, besonders aus Marokko und Algerien, gerechnet wurden (ebd., 220-230).
Während des Krieges stiegen auch Produktion und Einnahmen der IG Farben, die sich von 1932 bis 1939 bereits mehr als verdoppelt hatten, da sie wichtige Sprengstoffe und Säuren für den Krieg herstellten. Aber auch Textilbearbeitungsmittel und Medizin waren treibende Einnahmequellen (ebd., 290-297). Im Zuge dessen wurden von der IG-Farben, die spätestens ab 1942 in engem Kontakt mit der SS zusammenarbeitete, grauenhafte Experimente an KZ-Häftlingen durchgeführt. Die KZ-Häftlinge wurden beispielsweise mit Krankheiten infiziert, entweder um ihren Verlauf bis zum Tod zu dokumentieren oder um an ihnen klinische Tests, wie das Testen von neuen Medikamenten durchzuführen, deren Nebenwirkungen teils unfassbares Leid hervorruften. Der in Frankfurt ansässige Teil des IG Farben Konzerns, die Hoechst AG, testete ab 1943 das Medikament mit dem Namen Akridin 3582 an Häftlingen des KZ Auschwitz. Akridin 3582 sollte ein Medikament gegen die Infektionskrankheit Typhus werden, die Hautausschlag, schweres Fieber, starken Durchfall und Darmgeschwüre hervorruft und die für das NS-Regime ein großes Problem im Angriff gegen die Sowjetunion darstellte (ebd., 307-337). Das Medikament rief bei den KZ-Häftlingen allerdings schweres, teils brutales, Übergeben hervor oder verschlimmerte die Symptome der Krankheit. 30% der Versuchspersonen starben während oder in Folge der Tests der IG Farben (Yad Vashem).
Die Geschichte der IG Farben in Auschwitz reicht allerdings noch weiter. Denn ab 1941 begann die IG Farben mit dem Bau eines 5 km neben dem Konzentrationslager gelegenen Chemiewerks, den Buna-Werken. Für diesen Bau wurde massiv das Angebot der SS genutzt, KZ-Häftlinge als Zwangsarbeitende einzusetzen. Die IG Farben zählt mit ca. 45.000 ermordeten Zwangsarbeitenden zu einem der krassesten Beispiele für die Verwicklungen zwischen NS-Regime und Wirtschaft. Von diesen 45.000 Toten starben 27.000 beim Bau der neuen Werke, wobei der größte Teil der Zwangsarbeitenden aus dem Lager Auschwitz kam. Ausgerechnet die KZ-Häftlinge des Lagers Auschwitz, in dem das Giftgas Zyklon B, ein Schädlingsbekämpfungsmittel und Produkt des IG Farben Konzerns, angewandt wurde, um über eine Millionen Juden:Jüdinnen zu vergasen, mussten die Werke mit errichten (Hayes 1996, S.129-132). Bei diesem Bauprojekt war nicht nur klar, dass man für das vom Regime gewünschte Datum der Fertigstellung des Baus, KZ-Häftlinge zur Arbeit zwingen müsste, sondern auch dass die Entscheidung das Werk in Auschwitz zu bauen, „ganz erheblich zur Ausweitung des Lagers und seiner schließlichen Entwicklung zu einer Todesmaschinerie bei[trug]“ (Hayes, S. 138)
Aus dem Entschluss, die neuen Werke in Auschwitz zu errichten, entwuchs ab 1941 eine enge Zusammenarbeit zwischen der Geschäftsleitung der IG Farben und der SS. Besonders Heinrich Himmler, der Chef der SS, war von dem Projekt derart begeistert, dass er nach Auschwitz reiste, um dort Anweisungen für den Lagerbau des KZ zu geben. Himmlers Anweisungen, der den Plan zur „Germanisierung“ Schlesiens durchsetzen wollte, sahen vor, dass ein Drittel der Häftlinge des KZ als ständige Zwangsarbeitende für die IG Farben bereitgestellt werden würden. Allerdings wurde der Bau von einigen Problemen aufgehalten: Es fehlten immer noch Arbeitskräfte; manche der Nicht-Zwangsarbeitenden wurden von der konstanten Erniedrigung und Gewalt gegenüber den Zwangsarbeitenden demotiviert; es standen nicht genügend Produkte für sowohl den Bau der Werke, wie auch zur Verpflegung der Arbeitenden zur Verfügung; und schließlich schien dem Konzern die 5 km Entfernung zwischen Werk und KZ als eine überflüssige Energieverschwendung (ebd., 136-142).
Aus diesem Grund schlug die IG Farben 1942 der SS eine Ausweitung des KZ Auschwitz vor. Die SS hatte ein Jahr zuvor bereits das Stammlager Auschwitz durch das Vernichtungslager Birkenau ergänzt, das zur Vernichtung von Juden:Jüdinnen, Sinti*zze und Rom*nja benutzt wurde. Folglich gestattete die SS auch den Bau des KZ-Außenlagers Monowitz, das von dem IG Farben Konzern eigenmächtig entworfen und errichtet wurde. Spätestens ab diesem Moment befand sich die Geschäftsleitung auf der selben Ebene wie die SS. Denn da sich ab 1943 der körperliche Zustand der Häftlinge des KZ Außenlagers Monowitz bereits derart verschlechtert hatte, dass große Teile arbeitsunfähig waren, begann die IG Farben und die SS gemeinsam Häftlinge wie am Fließband zu selektieren und auszutauschen. Körperlich gesunde Juden:Jüdinnen wurden vom Stammlager ins Außenlager verlegt, um dort derart schwere Arbeit zu leisten, dass sie im Schnitt nach 3-4 Monaten entweder direkt starben oder von der SS zurück ins Stammlager Auschwitz gebracht und dort vergast wurden. Die Ermordeten wurden wie bloßes Material schlicht durch neue Zwangsarbeitende ersetzt. In den von der IG Farben betriebenen Minen neben den Werken sank die Lebenserwartung ab Ende 1944 gar auf 4-6 Wochen. Und auch die nichtjüdischen deutschen Angestellten forderten bei der SS immer öfter die Bestrafung der KZ-Häftlinge (ebd., 142-144).
Ab 1943 lässt sich schließlich auch mit Sicherheit sagen, dass die Geschäftsleitung der IG Farben wusste, dass die SS in den Lagern Auschwitz und Birkenau Juden:Jüdinnen sowie Sinti*zze und Rom*nja in Massen vergasten und anschließend verbrannten. Und auch ab diesem Moment gibt es dennoch keinen dokumentierten Versuch von Seiten der Geschäftsführung die Praktiken des Regimes und der SS zu kritisieren, geschweige denn die Situation der Betroffenen zu verbessern (ebd., 144-148). Schließlich leugneten sämtliche Positionsträger der IG Farben nach dem Krieg ihre Beteiligung an und ihr Wissen von dem Genozid, der nicht nur 5 km neben ihrer Produktionsstätte stattfand, sondern an dem sie aktiv mitgewirkt hatten.
Quellen:
Hayes, P. (2001). Industry and Ideology. IG Farben in the Nazi Era (2. Aufl.). Cambridge: Cambridge University Press.
Hayes, P. (1996). Die IG Farben und die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen im Werk Auschwitz. In: Kaienburg, H. (Hrsg.), Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft 1939-1945, Obladen: Lecke + Budrich, S. 129-148.
KZ-Außenlager Adlerwerke
Die unsagbaren Gräueltaten der nicht-jüdischen Frankfurter*innen als auch die Untrennbarkeit der Geschichte Frankfurts und der Geschichte des NS-Regimes manifestieren sich im KZ-Außenlager Adlerwerke. Im Zentrum des Stadtteils Gallus gelegen war das KZ Adlerwerke, das auch „Katzbach“ genannt wurde, die Hölle der Zwangsarbeit in Frankfurt und das wohlgemerkt in einer Stadt, die Dietmar Rebentisch, der ehemalige Direktor des Instituts für Stadtgeschichte Frankfurt, folgendermaßen beschrieb: „Die ganze Stadt war ein Zwangsarbeiterlager.“ Frankfurt hatte während der NS-Zeit insgesamt 155 Zwangsarbeitslager, in denen insgesamt ca. 100.000 Menschen zur Arbeit bis zum Tode gezwungen wurden.
Das Unternehmen Adlerwerke, das ursprünglich Fahrrädern produzierte, war bereits vor dem Krieg eines der erfolgreichsten deutschen Auto- und Motorenhersteller. Ab dem Krieg wurde die Firma noch erfolgreicher. Der Grund dafür ist, dass die Firma Adler ab dem Krieg Teile für Schützenpanzer der Wehrmacht herstellte und dafür ab 1941 besonders brutal Zwangsarbeit einsetzte. Die Zwangsarbeit wurde zunächst von Kriegsgefangenen aus Frankreich verrichtet. Die Zwangsarbeitenden wurden dabei in Baracken auf einem Teil des Geländes der Adlerwerke untergebracht, der zwischen 1938-1939 von jüdischen Kleinbetrieben enteignet — im Jargon der Nazis: „arisiert“ — wurden. Ab 1942 wurden auch Kriegsgefangene aus der ehemaligen Sowjetunion nach Frankfurt verschleppt, um in den Adlerwerken Zwangsarbeit zu verrichten. Die Menge der Zwangsarbeitenden war derart umfassend, dass die Adlerwerke im gleichen Jahr mit städtischer Hilfe eine Unterkunft für die Verschleppten errichteten, in welchem 2000 Menschen untergebracht waren. Schließlich ist die Zahl der Zwangsarbeitenden in den Adlerwerken 1943 die dritt höchste in ganz Frankfurt und Umgebung — mehr Zwangsarbeit wurde lediglich von IG Farben und VDM (Vereinigte Deutsche Metallwerke) eingesetzt.
Als sich 1944 der Verlust der Nazis eindeutig abzuzeichnen begann, wurden auch die Adlerwerke von einem Luftangriff schwer getroffen. Unter anderem deshalb fehlten den Adlerwerken Arbeitskräfte, weswegen ab diesem Jahr von der Werksleitung KZ-Häftlinge angefordert wurden. Die Werksleitung zahlte für die hauptsächlich aus dem KZ Buchenwald und dem KZ Dachau kommenden Menschen einen geringen „Mietpreis“ von 4-6 Reichsmark. In Folge dessen werden — am 22. August 1944 — die mit dem Decknamen „Katzbach“ betreuten Adlerwerke zum Außenlager des KZ-Natzweiler. Die Organisation des Lagers teilten sich ab diesem Moment die Werksleitung und die SS. Die Werksleitung war mit der Unterbringung, dem fachlichen Anlernen und mit der Beschaffung des Lebensnotwendigen für die Häftlinge betreut. Wie die Frankfurter „Initiative gegen das Vergessen“ anmerkt, hat die Werksleitung „[d]urchaus vorhandene Spielräume zur Verbesserung der Lage der Häftlinge […] nie genutzt“.
Das KZ Adlerwerke stellt ein besonders gewalttätiges und menschenverachtendes Beispiel für Hessische KZ-Außenlager dar. Im Januar 1945 hat das Außenlager Adlerwerke, so die Berichte der Initiative, „die höchste Vernichtungsrate aller hessischen Außenlager und aller Produktionskommandos des KZ-Stammlagers Natzweiler“. Systematische Verelendung, unsagbare Gewalt und härteste Zwangsarbeit waren die Tagesordnung der Gefangenen. In den Wintern mussten sie in Sommerkleidung ohne jede Beheizung auskommen; ihre Essensrationen beliefen sich auf Brotfetzen und hauptsächlich aus Wasser bestehende Suppe; Wassermangel war durchwegs vorhanden; und Krankheiten wurden zum Verursacher von Massensterben. Unangekündigte Prügel mit Knüppeln, Peitschenhiebe als Strafe für zu langsame Arbeit oder Erschießungen, Erhängen und kollektive Erniedrigung für einen Fluchtversuch sind nur einige Beispiele für die Demonstration absoluter Gewalt von Seiten der SS. Die Arbeitszeiten der Werke waren in zwei Schichten je 12 Stunden aufgeteilt, in denen die KZ-Häftlinge tag und nacht härteste Zwangsarbeit über die komplette Erschöpfung hinaus überstehen mussten. Diese Beispiele verdeutlichen, dass sowohl die SS wie auch die Werksleitung dem nationalsozialistischen Konzept der „Vernichtung durch Arbeit“ vollständig verschrieben waren.
Nachdem am 23. April 1945 die Produktion im KZ Adlerwerke im Zuge des bevorstehenden Verlusts des NS-Regimes stillgelegt wurde, beschloss der Gauleiter das Lager zu räumen und sämtliche Beweise für die Existenz eines Konzentrationslagers vernichten zu lassen. Die 350 verbliebenen Häftlinge des KZ Adlerwerke wurden gezwungen einen 120 km langen Todesmarsch nach Buchenwald in Weimar anzutreten. Dieser Marsch wurde von grauenhafter Folter und ständigen Hinrichtungen begleitet, bis schließlich 280 Häftlinge Buchenwald erreichten. Nach weiteren Hinrichtungen und einem erneuten Todesmarsch nach Dachau, erlebten schließlich nur noch 40 ehemalige Häftlinge des KZ Adlerwerke am 29. April 1945 die Befreiung des KZ Dachau durch die Alliierten. Ihre Peiniger, die SS, die Gauleitung, die Geschäftsleitung sowie die Aktionäre des KZ Adlerwerke mussten sich nie für ihr Verbrechen verantworten. 1947 wurde das Verfahren gegen sie eingestellt. 1948 kehrte der ehemalige Direktor der Adlerwerke an seinen alten Posten zurück und wurde in den Folgejahren als verdienstvoller Bürger der neu gegründeten BRD gekürt.
Quellen
kz-adlerwerke.de/de/menschen/haeftlinge/einleitung.html
kz-adlerwerke.de/de/geschichte.html
Nachgang des Vorfalls am Opernplatz
Die Frage, ob die deutsche Polizei ein Problem mit rassistischen Denkstrukturen und Vorgehensweisen hat, war für das Jahr 2020 prägend. Im Kontext dieser Frage hat sich eine Debatte losgetreten, die die Möglichkeit von Rassismus in der deutschen Polizei überhaupt anzweifelt. Dass die Möglichkeit von Rassismus in der deutschen Polizei angesichts ihrer kolonialen und nationalsozialistischen Geschichte derart vehement abgewiesen wird, wie durch den Minister für Inneres, Bau und Heimat, Horst Seehofer, der nicht einmal eine wissenschaftliche Studie zu diesem Thema genehmigen will, sollte äußerstes Bedenken erregen.
Besagte Debatte ist auch im Kontext des Vorfalls am Opernplatz entbrannt, der sich in der Nacht vom 19. Juli 2020 in Frankfurt ereignete. Jedoch geht es uns hier nicht um die Vorfälle des Abends selber, sondern um die polizeiliche Arbeit und die politischen Debatten im Nachgang des Vorfalls. Deswegen werden die Ereignisse des 19. Juli nur kurz zusammengefasst. Nachdem der Frankfurter Opernplatz schon immer ein Anlaufpunkt für wohlhabende, oft weiße Menschen war, wurde dieser im Zuge der Corona-Maßnahmen zu einem weniger exklusiven Treffpunkt. Doch seit sich auf dem Opernplatz auch migrantisierte Menschen zusammenfinden — also Menschen, die aufgrund ihres Äußeren oder ihrer Sprache von der weißen Mehrheitsgesellschaft als Migrant*innen oder Nicht-Deutsche gesehen werden —, wurde auch die Polizeipräsenz am Opernplatz massiv erhöht. Während weiße Menschen sowohl auf dem Opernplatz als auch auf dem Friedberger Platz (dem anderen exklusiven Treffpunkt für wohlhabende, oft weiße Menschen) ihres Weges gehen konnten, wurden migrantisierte Menschen zunehmend kontrolliert. Nachdem es am Abend des 19. Juli zu einer Schlägerei kam, wurde die Polizei mit Flaschen beworfen und eine Bushaltestelle beschädigt.
Im Nachgang des Vorfalls wurde der öffentliche Raum des Opernplatzes begrenzt und vehement polizeilichen Maßnahmen ausgesetzt. Ab 23:30 wurde der Platz durch die Polizei geräumt; ab 24 Uhr galt ein Betretungsverbot; ab 1:00 Uhr war dann der Platz komplett geschlossen. Außerdem entluden sich rassistische Vorurteile der Frankfurter Polizei und Stadtverwaltung: So betonte der Polizeipräsident der Stadt Frankfurt, Gerhard Bereswill, mehrmals und nachdrücklich, dass es sich bei den 39 Tatverdächtigen, die Flaschen geworfen und die Bushaltestelle beschädigt haben sollen, um „vorwiegend Männer mit Migrationshintergrund“ handele. Ähnlich äußerte sich auch der Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt, Peter Feldmann (SPD), in einer Diskussion mit jungen Aktivist*innen: Nachdem eine der Aktivist*innen von ihm wissen wollte, warum die Polizei keine blonden Menschen mit blauen Augen kontrolliert, lächelte Feldmann und sagte: „Es gibt hier ja gar nicht so viele.“
Und auch die Vergleiche mit den Ausschreitungen in Stuttgart in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 2020 ließen nicht lange auf sich warten. Nachdem es in Stuttgart zur Plünderung von Geschäften und Angriffen auf die Polizei kam, wurde von der ortsansässigen Polizei ebenfalls der sogenannte „Migrationshintergrund“ der Beteiligten als Ursache für die Gewalt benannt. Das Zurückführen von Verhalten gewisser Personengruppen aufgrund ihrer vermeintlichen Migrationsgeschichte ist eine eindeutig rassistische Praxis, da hierbei ein nichtvorhandener Zusammenhang zwischen dem Verhalten einer Person und Herkunft der Familie konstruiert wird. So stellte Thomas Mohr, der Mannheimer Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), auf Facebook einen künstlichen Zusammenhang zwischen den Vorfällen in Stuttgart und Frankfurt her, betonte ebenfalls die vermeintliche Migrationsgeschichte der Tatverdächtigen und stigmatisierte diese als wertlose Randalierer: „Die ‚Randal-Nacht‘ in Stuttgart empörte alle! Jetzt auch in Frankfurt! Die Täter erneut überwiegend junge Männer mit Migrationshintergrund, die keinen Respekt haben vor staatlichen Institutionen, kein Benehmen, keine Wertschätzung vor dem Eigentum anderer Menschen, keine Skrupel haben Menschen Gewalt anzutun.“
Diesen Aussagen entsprechend wurde im Nachgang des Vorfalls massives Racial Profiling durch die Frankfurter Polizei verübt. Racial Profiling bezeichnet eine rassistische Praxis, bei der Menschen unter dem Vorwand der „verdachtsunabhängigen Kontrolle“ wegen ihres Aussehens, ihrer Sprache oder ihrer vermeintlichen Herkunft polizeilichen Maßnahmen ausgesetzt werden. Im Nachgang des Vorfalls am Opernplatz wurde mit der Behauptung, nach den 39 Tatverdächtigen zu suchen, BIPoC und migrantisierte Menschen auf der Basis ihres Aussehens an öffentlichen Plätzen in der Frankfurter Innenstadt zu tausenden kontrolliert. Dabei wurden in vielen Fällen sogar Platzverweise ausgesprochen und persönliche Sachen durchsucht. Das „Journal Frankfurt“ berichtete in diesem Zusammenhang von ca. 2000 Personenkontrollen und 375 Platzverweisen.
Währenddessen leugneten auch die Verantwortlichen der Frankfurter Polizei die Möglichkeit der Existenz von Racial Profiling in ihren Reihen. Auch Minister Seehofer betonte im breiteren, bundesweiten Kontext der Debatte, dass die Praxis des Racial Profilings der Polizei verboten wäre, weshalb es diese Praxis auch nicht geben könne. Diese Aussage ist offensichtlich ein Scheinargument, da damit ausgesagt wird, dass verbotene Praktiken allein deshalb nicht verübt werden könnten, weil sie verboten sind. Wäre dem so, dann würde sich damit allerdings auch die Grundlage für die Existenz der Polizei in Luft auflösen, da diese explizit für den Fall des Gesetzesbruchs gedacht ist. Mit anderen Worten: Wenn es keine verbotenen Praktiken geben kann, allein weil sie verboten sind, dann gäbe es auch keine Polizei, da es keine verbotenen Praktiken geben würde, die die Polizei untersuchen oder vorbeugen müsste. Im Kontext des Vorfalls am Opernplatz leugnete auch Sicherheitsdezernent Markus Frank (CDU) mit der Aussage, dass bereits der Vorwurf des Racial Profilings „Bullshit“ wäre, die Möglichkeit von Racial Profiling durch die Frankfurter Polizei. Dabei scheint das Verhalten der Frankfurter Polizei allerdings das Gegenteil nahezulegen. Beispielsweise wurden BIPoC im Nachgang des erhöhten Aufgebots der Frankfurter Polizei derart massiv aufgehalten und kontrolliert, dass sich gar die Praxis des „Police the Police“ etabliert hat. Police the Police stammt aus dem US-amerikanischen Kontext und bezeichnet die zivile Dokumentation von Polizeigewalt und unangemessenen Praktiken, wie Racial Profiling. Dafür gingen anti-rassistische Aktivist*innen nachts zusammen durch die Frankfurter Innenstadt und dokumentierten Fälle von Racial Profiling und organisierten Proteste. Sowohl die massive Polizeipräsenz, als auch die Maßnahmen der Frankfurter Polizei legen in ihrer Härte eine massive Unverhältnismäßigkeit an den Tag, die auf die Kosten von migrantisierten Menschen und BIPoC in Frankfurt und Umgebung ging. So fahndeten Polizei und Staatsanwaltschaft nach 21 der 39 Menschen, die verdächtigt wurden, Flaschen geworfen und die Bushaltestelle beschädigt zu haben, mittels öffentlich einsehbaren Bildern. Diese Taktik, die sogenannte Öffentlichkeitsfahndung, wurde mehrfach politisch gerügt, da ein solches Vorgehen lediglich bei Straftaten von erheblicher Bedeutung juristisch legitim ist. Die Behauptung der Frankfurter Polizei, dass eine solche erhebliche Bedeutung bei den Vorfällen am Opernplatz gegeben sei, scheint jedoch zynisch, wenn man betrachtet nach welchen Verbrechen normalerweise mittels Öffentlichkeitsfahndung gesucht wird. Beispiele für die Öffentlichkeitsfahndung sind vermisste Personen, des Raubes oder Terrorverdächtige. Die Angemessenheit im Falle des Opernplatzes scheint dementsprechend kaum gegeben zu sein.
Schlussendlich lässt sich festhalten, dass Polizei, Staatsanwaltschaft und Stadtverwaltung im Nachgang des Vorfalls am Opernplatz sowohl massiv unangemessene Sprache wie auch Praktiken angewandt haben. Ihre Äußerungen, wie der Vergleich zu Stuttgart, und ihre Taten, wie das Racial Profiling oder die Öffentlichkeitsfahndung, weisen dem Vorfall nicht nur deutlich mehr Relevanz zu, als angemessen wäre, sondern reproduzieren auch die rassistische Diskriminierung migrantisierter Menschen und BIPoC.
Quellen
www.fr.de/frankfurt/oeffentliche-fahndung-nach-randale-in-frankfurt-90029686.html
www.fnp.de/frankfurt/frankfurt-opernplatz-faz-zdf-polizei-gewalt-twitter-racial-profiling-krawall-90012439.html
www.zdf.de/nachrichten/video/panorama-opernplatz-frankfurt-nacht-100.html
www.fnp.de/frankfurt/frankfurt-opernplatz-randale-live-ticker-pressekonferenz-pk-polizeipraesidenten-vertreter-stadt-zr-90010959.html
www.spiegel.de/panorama/justiz/frankfurt-stadt-verhaengt-betretungsverbot-fuer-opernplatz-a-b7c20797-3f2f-48a7-b038-59cf05035df4
www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/frankfurter-nachtleben-ausschreitungen-opernplatz-clubbetreiber/seite-2
www.welt.de/vermischtes/article211900477/Ausschreitungen-in-Frankfurt-Polizist-schreibt-Brandbrief.html
www.journal-frankfurt.de/journal_news/Gesellschaft-2/Spontan-Demo-gegen-Rassismus-Opernplatz-Diskussion-statt-Randale-36073.html
NSU2.0 im 1. Polizeirevier
Der sogenannte NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) war ein rechtsterroristisches Netzwerk, des von 1999 bis 2011 eine grauenhafte Raub-, Mord- und Terrorserie verübte. Die Geschichte des NSU verweist auf die Kontinuität nationalsozialistischen Gedankenguts in der deutschen Gesellschaft nach 1945 sowie auf Verstrickungen der deutschen Sicherheitsbehörden in den Rechtsterrorismus. Nachdem im Prozess zum NSU erhebliche Mängel der polizeilichen Ermittlungen offengelegt wurden, unterstreicht der 2018 aufgetretene, sogenannte NSU2.0 diese Kontinuität an rechten und rassistischen Gedankenguts in der deutschen Gesellschaft und Polizei.
Das rechtsterroristische Netzwerks NSU entstand innerhalb der gesellschaftlichen Dynamiken der 1990er Jahre, die unter anderem von massiven rechten Anschlägen geprägt waren: Besonders in den ländlichen Regionen wurde während dieser Zeit die Bildung unzähliger neonazistischer Gruppen zugelassen, die in Folge dessen mehrere rassistische Anschläge verübten — die Pogrome von Hoyerswerda (1991), Rostock-Lichtenhagen (1992), Mölln (1992) und Solingen (1993) zeugen von deren rassistisch motivierten Hass und ihrer Mordwut. Seit der Wiedervereinigung 1990 zählt die „Amadeu Antonio Stiftung“ mindestens 198 Mordopfer rechter Gewalt in Deutschland. Zu diesen Mordopfern gehören auch die zehn vom NSU zwischen 2000 und 2007 ermordeten Menschen: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Die Mordserie wurde letztlich erst durch die Selbstenttarnung des NSU beendet und aufgedeckt: Beate Zschäpe zündete am 04. November 2011 den Wohnwagen an, in dem sich Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erschossen hatten. Außerdem kursierte ein vom NSU angefertigtes Bekennervideo zur Morderserie. Polizei und Verfassungsschutz gingen bis zum Selbstmord von Böhnhardt und Mundlos davon aus, dass die Mörder in den Familien der Opfer selbst zu suchen wären. In rassistischer Manier sprachen die Sicherheitsbehörden und die Presse damals von den sogenannten „Dönermorden“ oder der „Mordserie Bosporus“. Dadurch wurden die Angehörigen und die Opfer selber als Täter*innen und Kriminelle stigmatisiert. Die angehörigen Familien wurden durch die Polizei monatelang beschattet, befragt und schikaniert und in der Presse als Bandenmitglieder dargestellt. Und das, obwohl der NSU-Untersuchungsausschuss verdeutlichte, der in Anschluss an das Versagen von Polizei und Verfassungsschutz gegründete wurde, dass auch damals ein rassistisches Tatmotiv eindeutig erkennbar war (NSU-Abschlussbericht, S.842).
Das Versagen der Behörden war also durchgängige Praxis. Zum Beispiel wurde bereits 1996 — 4 Jahre bevor die ersten Morde verübt wurden — einen Haftbefehl gegen Böhnhardt erlassen, einem der NSU Terrorist*innen. Da dieser entweder zu spät kommuniziert oder nicht konsequent durchgesetzt wurde, konnte Böhnhardt, der bei der Durchsuchung seiner Garage durch die Polizei noch anwesend war, während besagter Durchsuchung den Ort ungehindert verlassen und mit Hilfe eines anderen Neonazis die Flucht antreten. So berichtet der 2013 veröffentlichte Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses von durchgängigen, „schweren behördlichen Versäumnissen und Fehlern […] vor allem bei Informationsaustausch, Analysefähigkeit, Mitarbeiterauswahl und Prioritätensetzung“ (ebd., S.832). Das Versagen der Behörden geht soweit, dass Mitarbeitende des Verfassungsschutzes selbst an der Mordserie des NSU beteiligt schienen, wie das Londoner Institut „Forensic Architecture“ nachweisen konnte: So befand sich der Verfassungsschützer Andreas Temme zur Tatzeit des Mordes an dem damals 21-jährigen Halit Yozgat am 06. April 2006 zu aller Wahrscheinlichkeit im Internetcafé der Familie Yozgat in der Höllandischen Straße in Kassel. Laut der Rekonstruktion des Instituts „Forensic Architecture“ muss sich Andreas Temme um kurz nach 17 Uhr noch im Internetcafé befunden haben, als zwei Mitglieder des NSU Halit Yozgat mit zwei Schüssen ermordeten.
Nachdem die rassistische Mordserie unzweifelhaft auf den NSU zurückzuführen war, hat sich auch das Versagen der deutschen Behörden fortgesetzt. Nicht nur wurden die Morde nicht ausreichend aufgearbeitet. In den Ermittlungen und dem Gerichtsprozess wurde das rechtsterroristische Netzwerk NSU lediglich als ein Trio bestehend aus Mundlos, Zschäpe und Bönhardt definiert, obwohl ihre Verbindungen zu anderen neonazistischen und rechts Personen und Gruppen sowie die Hilfe und Unterstützung, die der innere Kern von ihren Unterstützer*innen bekamen, lange bekannt waren. Auch wurden die Fehler der Ermittlungsbehörden, wie das Schreddern wichtiger Akten, das verpasste Weitergeben von Informationen über den Ermittlungsstand durch Mitarbeitende des Verfassungsschutzes und der strukturelle Rassismus innerhalb von Verfassungsschutz und Polizei, konsequent ignoriert; ein massiver Fehler, der letztlich das Aufstreben des NSU2.0 aus den Ermittlungsbehörden selber ermöglicht hat. In Folge der grausamen Mordserie sowie der massiven Ignoranz und des Versagens von Behörden und Justiz hat sich ein starker Protest entwickelt. Nicht nur wurden Initiativen wie „Kein Schlussstrich“ oder „Tribunal NSU-Komplex auflösen“ gegründet, die bis heute noch bestehen. Auch die Angehörigen der Opfer kämpften und kämpfen für Aufklärung und Gerechtigkeit für die Ermordeten. So fordert beispielsweise die Familie Yozgat bis heute die Umbenennung der Höllandischen Straße in Halitstraße. In dieser Straße befindet sich das Internetcafé der Familie Yozgat, in welchem Halit Yozgat vom NSU ermordet wurde. Mit dieser Forderung versucht die Familie Yozgat, einen öffentlichen Ort des Gedenkens an ihren ermordeten Sohn zu erkämpfen.
Die Ignoranz gegenüber den Forderungen der Betroffenen und gegenüber der notwendigen Bekämpfung der strukturellen Probleme der Sicherheitsbehörden offenbarte in den Folgejahren ihre rassistische und rechte Kontinuität: Am 28. August 2018 erhielt Seda Başay-Yıldız eine Morddrohung, unterzeichnet mit dem Kürzel NSU2.0. Başay-Yıldız ist eine Frankfurter Rechtsanwältin, die die Angehörigen des NSU Opfers Enver Şimşek im NSU-Prozess vertrat. Was dieses per Fax zugeschickte Drohschreiben von anderen unterschied, waren die darin enthaltenen, personenbezogenen Daten zu Frau Başay-Yıldız. So wurde in der Morddrohung vom August 2018 der Name Seda Başay-Yıldız’ zweijähriger Tochter genannt und ihr mit dem Tode gedroht — man würde sie „schlachten“, so die Drohung des NSU2.0 — und auf die Kenntnis der Privatadresse der Familie hingewiesen. Die personenbezogenen Daten, die in der Morddrohung an Familie Başay-Yıldız enthalten waren, wurden ca. eine Stunde zuvor illegal, d.h. hier ohne juristische oder ermittlungstechnische Berechtigung, von einem Computer des 1.Polizeireviers Frankfurt abgerufen. Zu diesem Computer hatten lediglich sechs Beamt*innen Zugang. In der Folge der Morddrohung wurde eine rechtsextreme Chatgruppe von Polizist*innen des 1.Reviers aufgedeckt, in der Naziparolen, Hackenkreuze und ähnliches geteilt wurden. Die Polizist*innen wurden suspendiert; ob die Gruppe allerdings auch für die Drohschreiben ve
rantwortlich war, wurde nie aufgeklärt.
Klar ist allerdings, dass die Zahl der Morddrohungen durch den NSU2.0 und seinen Sympathisant*innen (es wurden auch Drohungen mit „NationalSozialistischeOffensive“, „SS-Obersturmbannführer“, u.ä. unterzeichnet) seit dem Fax an Familie Başay-Yıldız in die Höhe geschossen sind. Bis heute wurden mehr als 120 Drohschreiben verschickt, von denen insgesamt 88 mit „NSU2.0“ unterschrieben waren. Viele dieser Drohschreiben waren an Frauen adressiert, die sich gegen rechte, antisemitische und rassistische Strukturen einsetzen und/oder selber davon betroffen sind. So wurden außerdem der Frankfurter Comedian Idil Baydar sowie die Linken-Politikerinnen Janine Wissler, Martina Renner und Anne Helm Morddrohungen zugesandt; aber auch CDU-Politiker wie Innenminister Peter Beuth und Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier erhielten Drohungen. Bis heute wurden allerdings lediglich 25 Ermittlungsverfahren mit ca. 50 Beschuldigten eingeleitet; keine dieser Personen konnte als Mitglied des NSU2.0 ausgemacht werden. Dementsprechend ist zu resümieren, dass die Ermittlungen kein nennenswertes Ergebnis hervorgebracht haben. Der rechte Terror aber geht weiter: Keine Beweise, keine längeren Festnahmen, aber dafür weitere Abrufungen personenbezogener Daten durch hessische Polizeicomputer, so beispielsweise in Wiesbaden und erneut in Frankfurt.
Dabei bleibt es nicht nur bei illegalen Datenabfragen durch die Polizei und ungeahndeten Morddrohungen (lediglich eine handvoll Disziplinarverfahren wurden eingeleitet). Es hat sich außerdem gezeigt, dass diese illegalen Datenabfragen mit deutlicher Verspätung an den für derartige Verstöße zuständigen Datenbeauftragten weitergeleitet wurden. Außerdem kamen illegale Datenabfragen von Polizeicomputern aus München, Berlin und Hamburg hinzu. Dies lässt darauf schließen, dass es in der deutschen Polizei sowohl rechte Strukturen als auch einen deckenden Unterstützer*innenkreis gibt. Erschreckend sind letztlich auch die Überschneidungen der Ermit tlungsverfahren der Polizei bei NSU und NSU2.0. So schildert die Anwältin Başay-Yıldız, die für das Versagen der deutschen Polizei bis heute Leid tragen muss, wie die ermittelnde Polizei auch im Fall des NSU2.0 die Täter*innen im Umfeld der Opfer suchten. Außerdem wurde Başay-Yıldız , obwohl sie auch nach einem hoch geheimen Umzug zahlreiche weitere Drohschrieben erhielt, bis heute weder eine Akteneinsicht gewährt noch Bilder der Verdächtigen gezeigt. Başay-Yıldız Fragen, die sie in einem Gespräch mit der SZ geäußert hat, sollen hier für alle Opfer rassistischer und rechter Gewalt stehen, die von den Ermittlungsbehörden entweder im Stich gelassen wurden oder wegen der rechten Strukturen in diesen Behörden um ihr Leben bangen müssen: „Warum wird hier gegen mich ermittelt? Warum ermittelt die Polizei nicht in den eigenen Reihen?“
Quellen
forensic-architecture.org/investigation/the-murder-of-halit-yozgat
www.mmk.art/de/whats-on/weil-ich-nun-mal-hier-lebe/
www.belltower.news/die-liste-193-todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit-1990-36796/
www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/167684/der-nationalsozialistische-untergrund-nsu
NSU Abschlussbericht: dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/146/1714600.pdf
www.spiegel.de/politik/deutschland/idil-baydar-und-janine-wissler-erhalten-erneut-drohmails-a-2e514bd5-4154-41bf-a632-977fce18e86a
www.sueddeutsche.de/politik/rechtsextremismus-nsu-2-0-seda-basay-yildiz-1.5122351
www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-09/nsu-2-0-drohschreiben-politiker-prominente-rechtsextremismus
Glossar
Antirassismus – Antirassismus geht über das nur „nicht rassistisch sein“ hinaus und erfordert aktive Taten, die zu weniger rassistischer Diskriminierung führen.
Antisemitismus – ämtliche historische und aktuelle Formen des Judenhasses bzw. der Feindschaft gegen Juden:Jüdinnen
„arisiert“ / “arisch“ – Nach dem Nationalsozialistischen Rassenkonstrukt Angehörige*r der "nordischen Menschengruppe" (besonders im Gegensatz zu Juden:Jüdinnen)
Autarkie – Autarkie als Begriff bezeichnet zunächst die Selbstversorgung eines Staates/Gebietes unabhängig von anderen Staaten/Gebieten. Die Nazis deuteten diesen Begriff für sich um und machten ihn zum zentralen Bestandteil ihrer Rassenideologie und Wirtschaftspolitik, die die Herrschaft der eigenen „Volksgemeinschaft“ auf der Ausbeutung und Vernichtung anderer aufbaute.
Biologismus – das Übertragen pseudo-naturwissenschaftlicher Erklärungsweisen auf nicht biologisch erklärbare Verhältnisse; wird genutzt um Diskriminierung vermeintlich "biologisch" zu rechtfertigen
BIPoC (Black, Indigenous and People of colour) – politische Selbstbezeichnung von Menschen, die von Rassismus betroffen sind; Schwarze Menschen, Indigene Menschen und People of Colour,
Boykott – organisiertes Ächten einer Firma/eines Ladens, das dem Aufbau finanziellen Drucks/Bestrafung dient. Der Boykott jüdischer Geschäfte war einer der ersten Strategien des Nazi-Regimes jüdische Menschen zu vernichten. Auch vor den Nazis gab es Boykotte gegenüber jüdischen Menschen im deutschen Kontext.
Cultural Appropriation/Kulturelle Aneignung – das Nutzen von Aspekten einer Kultur einer marginalisierten Gruppe ohne die Kultur und die Bedeutung dahinter zu respektieren, sondern nur für die eigene Bereicherung und Anerkennung
denunzieren – öffentliches Brandmarken von Einzelpersonen oder Gruppen
Deportation – Verschleppung, mit Zwang und Gewalt durchgesetzte Umsiedelung, und ein Mittel des Genozids
Diskriminierung – Ein gesellschaftliches System, in dem der Zugang zu Lebenschancen und Ökonomischen, politischen und sozialen Ressourcen wie Geld, Wohnraum, Bildung, Sicherheit und Anerkennung einer Gruppe erschwert/verwehrt wird. Um diese Ungerechtigkeit zu legitimieren, werden der Gruppe herabwürdigende Eigenschaften zugeschrieben.
Strukturelle Diskriminierung/institutionelle Diskriminierung – Sozio-kulturell gefestigte oder durch gesellschaftliche Einrichtungen gefestigte Benachteiligung oder Herabwürdigung von Gruppen oder Einzelpersonen, die einer bestimmten benachteiligten und herabgewürdigten Gruppe zugerechnet werden.
Entnazifizierung – Nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA, Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion in Deutschland durchgesetzte Politik, die zum Ziel hatte, die deutsche Gesellschaft und ihre Institutionen vom nationalsozialistischen Gedankengut und Strukturen zu befreien. Diese "Entnazifizierung" wurde jedoch nicht konsequent durchgeführt und die Folgen davon (wie rechter Terror, rechte Strukturen in Behörden und Justiz, rechte Parteien in Parlamenten) sind heute zu sehen.
Exotisierung – Exotisierung ist eine rassistische Denk- und Handlungsweise in der BIPoC als vermeintlich „positiv“, „besonders“, „anders“ und als Gegensatz zur „Norm dargestellt werden, um sie auszuschließen und zu unterdrücken.
Gau – regionale Organisationseinheit der Nazis
Gauleiter – Leiter eines Gaus
Gendersternchen * – Das Gendersternchen * ist der Versuch Sprache geschlechtergerecht zu verwenden, indem es nicht nur die "weibliche" und die "männliche" Form miteinbezieht sondern durch das Sternchen auch inter- und nicht-binäre Menschen (Menschen, die sich nicht in das zweigeschlechtliche System von männlich oder weiblich einordnen können/wollen) miteinbezieht.
Genozid – "Völkermord", die Absicht und die Tat eine nationale, religiöse oder ethnische Gruppe komplett oder teilweise zu vernichten
„Germanisierung“ – Plan der Nationalsozialist*innen, besetzte Gebiete durch Landergreifung und Zwangsarbeit zu Gebieten "arischer Völker" zu machen
GESTAPO (Geheime Staatspolizei) – die Polizei in dem Nationalsozialistischen Staat. Sie verfolgte politische Gegner*innen
Ghetto – Meist abgegrenzter Stadtteil, in dem diskriminierte Bevölkerungsgruppen abgegrenzt vom Rest der Bevölkerung in schlechten Umständen leben müssen
„Gleichschaltung“ – Begriff der Nazis; erzwungene oder freiwillige Eingliederung von sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Institutionen in die nationalsozialistischen Organisationen und Ideologien
Holocaust – Genozid an über 6 Mio. Juden:Jüdinnen und Sinti*zze und Rom*nja; aus dem Altgriechischem bedeutet "vollständig verbrannt"; der Begriff wird von vielen Juden:Jüdinnen abgelehnt, da er ursprünglich eine religiöse, kultische Handlung beschreibt, die nicht vergleichbar mit der Massenvernichtung der Juden:Jüdinnen ist
institutioneller Rassismus / Struktureller Rassismus – Rassismus, der die Organisation der Gesellschaft durchdringt, wie beispielsweise Politik, Gesetze, soziale und kulturelle Normen, Bildungssystem, Wohnungsmarkt etc.
Internierung – Staatlich veranschlagter Freiheitsentzug, meist im Zusammenhang von Lagern oder Gefängnissen
Juden:Jüdinnen/Juden_Jüdinnen – Gegenderte Selbstbezeichnung; Es gibt auch andere mögliche Formen des Genderns und Diskussionen darüber, inwiefern diese geeignet sind. Die Form Jüd*innen ist aus mehreren Gründen umstritten, zum einen wird der Wortstamm Jüd- als unpassend empfunden, da er von Nazis und Antisemit*innen abwertend genutzt wurde und wird. Auch das Gendersternchen * wird im diesem Kontext als unpassend empfunden, da das Sternchen unpassende Assoziationen zu dem „Judenstern“ hervorruft, den Juden:Jüdinnen unter der Herrschaft des NS-Regimes tragen mussten, um offen gedemütigt und benachteiligt zu werden. Vielen ist es auch wichtig, dass die männliche Form erkennbar bleibt (nur in diesem bestimmten Fall), da diese Form oft als Beleidigung missbraucht wird und nur mit Unbehagen von nicht Betroffenen verwendet wird. Der Begriff soll also nicht tabuisiert werden, sondern bewusst verwendet werden, um ihn sich wieder anzueignen. Kritik an der Verwendung von dem Begriff „Juden und Jüdinnen“ ist, dass er nur Menschen anspricht, die sich in dem binären Geschlechtssystem von Mann und Frau einordnen können. Also werden die Formen von Juden:Jüdinnen/Juden_Jüdinnen häufig genutzt um gendergerechte Sprache zu ermöglichen und auch intergerschlechtliche und nonbinäre Juden:Jüdinnen miteinzubeziehen. Quelle: latkesberlin.wordpress.com/2020/10/24/juden-gendern/
Kolonialismus – Staatliche Praxis der Inbesitznahme von Territorien und Errichtung einer Kolonialherrschaft, durch Ausbeutung, Unterdrückung, Versklavung und Ermordung der ansässigen Bevölkerung. Außerdem Geschichtliche Epoche vom 15ten bis zum 20ten Jahrhundert.
Kontinuität – Weitgehend ungebrochener (historischer) Fortgang
Konzentrationslager („KZ“) – Internierungs-, Arbeits- und Vernichtungslager der Nazis, in denen Juden:Jüdinnen, Sinti*zze und Rom*nja, be-hinderte Menschen, LGBTQI+, Sozialdemokrat*innen, Sozialist*innen, Kommunist*innen, Anarchist*innen, Pfarrer und als „Asoziale“ stigmatisierte Menschen aus der Armutsklasse, Lesben, Suchtkranke, Wohnungslose, Sexarbeiter*innen und Menschen die von der Naziideologie einer „Volksgemeinschaft“ abweichen, ausgebeutet und ermordet wurden.
marginalisiert – Sozialer Prozess, der Bevölkerungsgruppen "an den Rand der Gesellschaft" drängt bzw. die Bevölkerungsgruppen und ihre Belange unwichtig macht.
migrantisiert – Sozialer Prozess, durch den Menschen auf Basis ihres Aussehens, oder ihrer Biografie zu Migrant*innen gemacht werden, u.a. auch wenn sie selbst keine Migrationserfahrung haben.
Nationalsozialismus („NS“) – Nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entstandene nationalistische, imperialistische, antisemitische, rassistische, völkische und faschistische politische Ideologie und Bewegung
Novemberpogrome/Pogrom – In der Nacht des 9. auf den 10. November 1938 vom nationalsozialistischen Regime organisierte und durchgeführte Gewaltaktionen gegen Juden:Jüdinnen
Nürnberger Gesetze – am 15. September 1935 erlassenes Gesetz der Nationalsozialist*innen, das die juristische Grundlage der NS-Rassenideologie bildet. Die Nürnberger Gesetze teilten Personengruppen in unterschiedliche Wertigkeiten auf, wodurch die Vernichtung von Juden:Jüdinnen und Sinti*zze und Rom*nja vorbereitet und legitimiert wurde.
NSDAP – kurz für "Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei"; Partei des Nationalsozialismus die von 1933-1945 an der Macht war
NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) – Rechtsextreme Terrorgruppe, die von den Jahren 1999-2007 neun rassistische Morde und mehrere Mordversuche verübte. Wer hinter den Taten steckte, wurde erst 2011 durch eine Selbstenttarnung bekannt. Bis heute gibt es keine vollständige Aufklärung der Taten.
Paternalismus – Praktik eines Herrschaftssystems, in dem die herrschende Gruppe, die beherrschte Gruppe bevormundet und sie dadurch entmündigend und erniedrigend behandelt.
“Police the Police” – eine Praktik, die politische Gruppen und social justice (Soziale Gerechtigkeit) Kämpfer*innen anwenden um das Vorgehen der Polizei zu beobachten, zu kritisieren und dagegen vorzugehen. Dabei beobachten die Menschen das Vorgehen der Polizei an Orten, wo es z.B. zu Racial Profiling kommt, und versuchen den von der Willkür der Polizei betroffenen Menschen in dieser Situation zu helfen.
Porajmos/Pharrajmos – Nationalsozialistischer Genozid an den Sinti*zze und Rom*nja, heißt auf Romanes "das Verschlingen"
Propaganda – Gezielte Versuche der politischen Unterwanderung bzw. der politischen Meinungsmache und Veränderung oder Bekräftigung öffentlicher Sichtweisen.
Racial Profiling – Die Lüge der verdachtsunabhängigen Kontrolle; rassistische (oft polizeiliche) Praktik, bei der eine Person auf Basis ihres Äußeren, ihrer vermeintlichen Herkunft und/oder ihrer Sprache verdächtig eingeschätzt und infolge dessen diskriminierend behandelt wird.
„Rassenbiologie“ – Begriff aus der NS-Zeit; Pseudowissenschaftliche Einteilung der Menschen in "Rassen", um Menschen zu kategorisieren und das rassistisches System und rassistisches Handeln zu rechtfertigen
“Rassenhygiene“ – Begriff aus der NS-Zeit; die verschiedenen "Rassen" sollten "rein" gehalten werden, also sollten weiße Menschen nur mit anderen weißen Menschen Kinder bekommen. Diese sog. "Rassenhygiene" wurde mit Hilfe der rassistischen und antisemitischen Nürnberger Gesetze umgesetzt.
Rassismus – Ideologie und Herrschaftssystem, das die Menschen aufgrund konstruierter Unterschiede (bspw. auf Basis ihrer Herkunft, ihres Aussehens oder ihrer Sprache) in verschiedene Wertigkeiten einteilt. Der Rassismus dient gleichzeitig der radikalen Aufwertung der "eigenen" (weißen) Bevölkerung und der radikalen Abwertung derjenigen, die als "anders" oder "fremd" angesehen werden. Die Abwertung einer Gruppe dient der ungleichen Verteilung von gesellschaftlichen Ressourcen.
SA (Sturmabteil) – paramilitärische Kampforganisation der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei)
Schwarz – Selbstbezeichnung von Menschen afrikanischer und afro-diasporischer Herkunft, bezieht sich nicht auf die Hautfarbe, sondern auf die ähnlichen Rassismuserfahrungen der Menschen
Shoah – Genozid an Juden:Jüdinnen, hebräisch für Katastrophe, Begriff stammt aus der Israelischen Unabhängigkeitserklärung und bezieht sich nur auf die Massenvernichtung der Juden:Jüdinnen
Sinti*zze & Rom*nja – gegenderte Selbstbezeichnung in Deutschland lebender Sinti*zze und Rom*nja
SS (Schutzstaffel) – nationalsozialistische Organisation, die die Kontrolle über KZs hatte und hauptverantwortlich für die Shoa und den Porajmos ist
Sterilisation – medizinischer Eingriff, der den Menschen unfruchtbar macht
Todesmarsch – Eine Methode der Nazis, um Juden:Jüdinnen, Sinti*zze und Rom*nja und andere politische Gegner*innen umzubringen. KZ-Häftlinge mussten mehrere Wochen laufen um von einem Ort zu einem anderen gebracht zu werden. Dabei wurde in Kauf genommen bzw. war es das Ziel, dass Menschen wegen Erschöpfung und Mangelernährung auf den Wegen starben. Andere Menschen, die nicht mehr konnten, wurden auch erschossen.
Vernichtungslager – Ein Konzentrationslager, das ausschließlich dafür errichtet wurde, um die Menschen, die nicht mehr als Arbeitskraft in den Arbeitslagern arbeiten konnten, hinzurichten.
völkisch/anti-völkisch – antisemitisch-rassistische Ideologie, die Völker auf Basis vermeintlicher "Rassen" konstruiert, als anti-völkisch wurde alles bezeichnet, was nicht in dieses Weltbild passte bzw. es anzugreifen drohte.
weiß – Bezeichnet alle weißen Menschen, also alle Menschen die keine Rassismuserfahrungen machen. Der Begriff bezieht sich nicht allein auf die Hautfarbe, sondern beschreibt vielmehr die gesellschaftliche Position und die Privilegien, die damit einhergehen
Zäsur – einschneidender Moment in der Geschichte